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Re: "Bibliothekare zur R-Reform"
Lieber Herr Eversberg,
glauben Sie nicht, dass Sie die Dinge hier wirklich um mindestens eine
Etage zu hoch hängen?
-- Die Tatsache, dass Lesen und Lernen und damit geistiges Arbeiten erschwert
statt erleichtert werden, wenn die Leser auf Dauer mit einem Durcheinander
konfrontiert sind. Einen klaren Schnitt gibt es nicht, weil viele Verlage und
Autoren sich verweigern. Ein langsames "Auswachsen" der Probleme wird es deshalb
auch nicht geben - zur Anwendung verpflichtet sind ja lt. BVerfG nur die Schulen.
Ich habe vor relativ kurzer Zeit drei Jahre in Norwegen gelebt. In
Norwegen ist die zentrale "linguistische Instanz", der "spraakraad"
("Sprachrat") per Satzung dazu verpflichtet, sich der Propagierung
"linguistischer Toleranz" auch und vor allem im Alltagsleben zu widmen.
Es gibt - verkürzend - nahezu nichts Norwegisches, das Sie nicht auch
anders schreiben können. Meine norwegischen KollegInnen sind mir nicht
als sonderlich illiterat aufgefallen. Die norwegischen Schulkinder haben
bei Pisa deutlich besser abgeschnitten als die deutschen. (Letzteres
sage ich ungern, weil ich von dieser Studie nicht allzu viel halte.)
Es gibt durchaus Autoren, die gezielt von der Orthographie abweichen, um
mit der Graphematik gezielt zu spielen.
Tut mir leid, aber m.E. hat die Orthographie mit dem "geistigen
Arbeiten" ungefähr soviel zu tun, wie ... ein klug ausgedachtes Layout
vielleicht, das in der Hand des Könners auch eine ganze Menge
Information transportieren kann? (Jandl, z.B.)
-- Die scheinbare Abwertung großer Mengen von Literatur, obwohl die Orthographie
mit ihrer inhaltlichen Qualität rein gar nichts zu tun hat (denn wieviele Texte
werden schon neu gedruckt und wieviele davon können wir neu kaufen?), was bis zur
Aussonderung und Makulierung in öffentlichen Bibliotheken führen kann.
Sorry, meine ursprüngliche akademische Disziplin ist die Geschichte und
vor diesem Hintergrund verstehe ich den Absatz einfach nicht. Dass
Goethe dadurch abgewertet wurde, dass seine Werke von Zeit zu Zeit
neueren Schreibungskonventionen angepasst wurden, ist mir neu; für
Klopstock scheint die Klage mit dem Lesen & Loben durch eine
Modernisierung der Schreibung auch nicht beseitigt worden zu sein. OK,
OK, OK .. in letzter Zeit habe ich nur selten gehört, dass er gelobt
worden wäre; dass das an der Reform vor einem Jahrhundert lag, glaube
ich aber einfach nicht..
-- und natürlich die Verschärfung der Probleme des Suchens in Katalogen,
Datenbanken und Textbeständen. Eine vollständige technische Lösung ist nicht
möglich, und die Schwierigkeiten werden sich nicht mit der Zeit von selbst
erledigen. Das ist hinreichend belegt, in den Reformdiskussionen aber kaum jemals
auch nur angemerkt worden.
In der Zwischenzeit betrachte ich mich nicht mehr als Historiker sondern
als Angehöriger der merkwürdigen unten stehenden Disziplin. Ich schätze
Ihre Arbeit und Ihre Verdienste um die deutsche Bibliotheks-IT ganz
ungemein. Aber: Sind Sie wirklich sicher, dass Sie hier an der richtigen
Front kämpfen? Wenn Sie sich neuere Texte zum Information Retrieval
ansehen - Ricardo Baeza-Yates & Berthier Ribeiro-Neto, Modern
Information Retrieval, z.B., immerhin sowas Ähnliches wie das offizielle
Lehrbuch der ACM, ist mein Lieblingsbeispiel - stellen Sie fest, dass
zwar am Anfang Precision and Recall nach wie vor brav definiert werden,
dass aber der Text, je mehr er sich von den Grundlagen den neueren
Entwicklungen zuwendet, immer stärker betont und / oder zugibt, dass
diese alten Konzepte NICHT geeignet sind, um zu beschreiben, was wir im
Umgang mit neueren Informationssystemen in den letzten Jahren beobachtet
haben.
Gut, auch bei mir hat eben wieder jemand die ZP nicht bestanden, weil er
(u.a.) diese Maßzahlen nicht definieren konnte. Aber halten Sie es
angesichts der vielen Unsicherheiten, welche Richtung das IR in Zukunft
nehmen wird, wirklich für sinnvoll, derartig auf einem Verständnis von
"Suchsystemen" zu beharren, das nun mal auf der Annahme beruht, dass es
ausser dem Zeichenkettenvergleich auf der Basis einer vielfeldrigen
Suchmaske nichts anderes gibt?
Nix für ungut, Ihre persönliche Arbeit schätze ich - wie gesagt -
wirklich ungemein; aber für eine fast schon zivilisationskritische
Fundamentalopposition scheint mir eine durchaus angreifbare Konzeption
von "unveränderlichen" IR Gesetzmäßigkeiten dann doch nicht ausreichend.
Mit herzlichen Grüßen,
Ihr
Manfred Thaller
--
Prof. Dr. Manfred Thaller
Historisch-Kulturwissenschaftliche Informationsverarbeitung, Universität
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