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Re: R-Reform: Verschlimmbesserung



Die einen werden als Dramatisierer abgestempelt, die anderen spielen das
ganze
Problem herunter.
In meinem Papier von 1998 hatte ich, wie ich dachte, die Dinge differenziert
dargestellt und bewertet, Loesungswege gewiesen und durchaus nicht alle
Aspekte
der Reform kritisiert.
Der Kernpunkt ist: es werden ohne Not neue Inkonsistenzen geschaffen. Gewiss,
davon haben wir eh schon viele, aber gerade deshalb ist ein Standpunkt "Kommt
doch auf ein paar mehr nicht drauf an" ueberhaupt nicht hilfreich.
Damit aber setzte sich bisland niemand im Detail auseinander, sondern man
begnuegt sich mit Pauschalurteilen oder gar blauaeugiger Technikglaeubigkeit,
die Retrievalsysteme wuerden's und sollten's denn richten. Bis jetzt richten
sie
gar nichts, und auslaendische Dienste werden bestimmt nichts tun.
So kommen wir zu nichts.
Auch dass sich 10 Akademien fuer eine Ruecknahme der missratenen Reform
ausgesprochen haben, dass viele Belletristik-Verlage sich verweigern, dass
auch
auslaendische Schriftsteller sich gegen eine Verwendung neuer Schreibung in
Uebersetzungen ihrer Werke aussprechen, solche Dinge werden die willigen
Vollzieher der Reform noch immer nicht beeindrucken, da soll man sich nichts
vormachen.
Zugegeben: die Retrievalproblematik ist ein Nebenaspekt, der ausserhalb
unserer
Kreise nirgends wahrgenommen wird und dessentwegen die Reform sicher nicht
scheitern noch gar kritisiert werden wuerde. Obwohl heute jeder Suchmaschinen
benutzt und merkt, dass die nicht intelligent sind.

Zwei Punkte aber noch zu den Hauptaspekten:

1. Die Sprache dient den einen als Werkzeug, mit dem sie sägen, hämmern und
bohren. Den anderen ist sie ein Instrument, mit dem sie feilen, ornamentieren
und polieren. Die Reformer haben sich als der ersten Kategorie zugehoerige
Technokraten erwiesen. Wen wundert's, dass gerade Schriftsteller opponieren,
die
ja ansonsten nicht konservativ mit Sprache umgehen? Sie wollen, wie E.
Kaestner,
zwichen "heißersehnten und heiß ersehnten Bratkartoffeln" unterscheiden
können.
Immerhin hat die KMK dem Ansinnen der Kommission nicht stattgegeben, die
unkontrollierte Oberhoheit ueber die Orthographie zu erhalten. Im Gegenteil
muss
sie sich nun einigen mit der gegnerischen Akademie fuer Sprache und Dichtung,
die
der zweiten Kategorie zuzurechnen ist.

2. Wie lernt man Orthographie? Nicht durch Pauken von Regeln, und seien sie
noch
so vereinfacht. Man lernt sie durch Lesen. Das immer gleiche bleibt dabei von
selber haengen. Es ist nicht moeglich, den Lernenden alte Texte
vorzuenthalten,
sie werden auf Dauer immer wieder damit konfrontiert. Auch wenn "Vorsicht,
alte
Schreibung!" draufstuende, es wuerde wenig helfen - die unterbewussten
Lernmechanismen werden gestoert. (Die Situation war 1901 anders: da gab's
vorher
das Chaos und hinterher eine relative Ordnung.) Beliebigkeit ist daher
kontraproduktiv.
Der Beliebigkeit wurden ansonsten nicht erst jetzt, sondern schon dadurch
Tuer
und Tor geoeffnet, dass es hiess, nur Behoerden und Schulen seien der Reform
verpflichtet. Womit man u.a. die Schriftsteller beschwichtigen wollte. Aber
kann
man eine Zwei-Klassen-Orthographie wollen?

Es werden deswegen, entgegen der Erwartung, wie Allers schon bemerkte, nun
andere
und nicht weniger Fehler gemacht als vorher, bis hin zu Absurditaeten wie
"Antrag auf Beihilfe zur Anschaffung eines blinden Hundes". (Merken Sie was?
Irgendwie ist bei dem Schreiber durchaus was haengengeblieben...)

Immerhin: wir leisten uns mit der R-Reform ein Problem, um das man uns
nirgends
sonst auf der Welt beneidet. Fuer das Englische, dessen Orthographie weitaus
schwerer zu lernen ist, wurde um 1900 ein Versuch gemacht, der voellig
scheiterte. Melvyl Dewey war einer der Betreiber, er schrieb deshalb seinen
Namen
"Melvil Dui". Geblieben ist davon kaum was, und man amuesiert sich jetzt nur
ueber uns bzw. findet die Sache aergerlich, wenn man selber Deutsch lernen
moechte oder mal gelernt hat. Auch dies hatten sich die Reformer anders
vorgestellt.

B.E.



Bernhard Eversberg
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