Klaus-Rainer Brintzinger wrote: Lieber Herr Franken, ...
Lieber Herr Franken,
Ihr Modell entspricht genau dem, was ich vorgeschlagen hatte. Allerdings würde ich mich auf den Etat für wissenschaftliche Zeitschriften in STM-Fächern beschränken. Ich gehe davon aus, dass diese ganz überwiegend, wenn nicht ausschliesslich von den Wissenschaftlern gelesen werden. Studierende der Naturwissenschaften benötigen in ihrem Studium (ganz besonders gilt dies für die Medizin) relativ wenig Literatur und insbesondere Lehrbücher. Daher würde sich an der Versorgung der Studierenden mit Literatur nichts ändern - im Gegenteil, diese würde sich tendenziell sogar verbessern, wenn nicht der Gesamtetat durch die Zeitschriftenpreissteigerungen aufgefressen würde.
Ich stimme Ihrer Prognose vollkommen zu, dass es dann zu Abbestellungen kommen wird, weil die Wissenschaftler mit ihrem "eigenen" Geld bezahlen müssen - oder ökonomisch besprochen: Gemäß ihrer tatsächlichen Präferenzen entscheiden müssen. Es gibt - sofern nicht Interessen Dritter berührt sind - keinen Grund, dass wir diese Präferenzen durch bibliothekarisches Wirken verzerren. Nur die verzerrten Präferenzen erlauben den Verlagen ihr Spiel - und dies gilt bei fast allen aktuellen Problemen öffentlicher Etats. Denn wenn Ihre (und auch meine) Prognose stimmt, werden die teuren Journals vorallem deswegen bezogen, weil sie die den Nutzer nichts kosten und er deswegen ein möglichst großes Stück vom Kuchen abschneidet.
Verabschieden müssen wir uns dabei nur von dem alten Fachreferenten-Ideal des geordneten und abgerundeten Bestandsaufbau. Dies mag vielleicht in manchen Geisteswissenschaften noch eine gewisse Berechtigung haben - doch im STM Bereich, wo jedes Jahr zig Journals neu entstehen und andere eingestellt werden, kann doch die bibliothekarische Kontinuität nicht länger währen als die wissenschaftliche Kontinuität.
Dass sich beim Ab- und Neubestellen Partikularinteressen durchsetzen, ist nicht ausgeschlossen, doch so what, solange die Wissenschaftlern selbst darüber entscheiden, was sie lesen wollen. (Wir bestimmen ja auch nicht über ihre Laborausstattung mit).
Abgesehen davon haben wir durch Datenbanken, die wir i.d.R. nicht archivieren können, das Vollständigkeitsideal schon längst zugunsten von "Access" über Bord geworfen.
Und Neuberufungen sollten uns keine Sorge machen: Nicht wir, sondern die Fakultäten und der Senat berufen und müssen für die Ausstattung Sorge tragen. So wie wir auch heute nicht verhindern können, dass ein Wissenschaftler berufen wird, für dessen Spezialgebiet keine Literatur vorhanden ist und dieser die Universität wieder verläßt, nachdem die Literatur mühsam rückergänzt worden ist.
Ich glaube auch nicht, dass Universitätsbibliotheken betrübt sein sollten, wenn sie diesen Teil des Etats abgegeben dürften. Viele "Vollunis" geben 80% und mehr des Zeitschriftenetats für die STM-Fächer aus, über den sie keinerlei Entscheidungsfreiheit mehr haben. Nachgefragt werden die Leistungen der UB bzw. des gesamten Bibliothekssystems jedoch - nach meiner Einschätzung aus Tübingen - ganz überwiegend von den Geistes-, Sozial- und Rechtswissenschaften, schon alleine weil die Studierendenzahlen in diesem Bereich überwiegen. Die UB hat damit eine Aufgabe, die - Sie haben das in dem Moneymaker-Brief besonders illustrativ dargestellt - faktisch unlösbar ist: Gibt die Bibliothek aufgrund der horrenden Preissteigerungen mehr Geld für die STM-Journals aus, so vernachlässigt sie einen großen Teil Ihres Kernklientels, verweigert sie sich den Preissteigerungen und bestellt Zeitschriften ab, so wird sie sich zuschreiben lassen müssen, die Literaturversorgung an der Uni nicht gewährleisten zu können und damit ihre Aufgaben nicht zu erfüllen. Es ist nicht nur ein klassisches Schach-matt, sondern eine Spirale ohne Ende: Ganz egal, was die UB tut, sie hat verloren, muss sich der Ineffizienz bezichtigen lassen und startet schon als Looser in die nächste Runde.
Daher ist m.E. die zentrale Etatisierung der Zeitschriftenkosten bei der UB ein echtes Danaer-Geschenk, das wir selbstbewusst zurück - an die wissenschaftlichen Einheiten - weisen sollten. Dies gilt wohlgemerkt nur für die STM-Journals und völlig unberüht bleibt davon die Frage, wer die bibliothekarische Bearbeitung der Medien übernimmt. Hier haben wir Bibliothekare unsere Fachkompetenz und sollten diese Kernkompetenz selbstbewußt herausstellen.
Nun ist diese Anwort etwas länger geworden, ich setze Sie dennoch wunschgemäß in inetbib.
Beste Grüße
Klaus-Rainer Brintzinger
Klaus Franken schrieb:
Lieber Herr Brintzinger,
mit Ihrer Überlegung rühren Sie nach meiner Ansicht an ein sehr delikates Problem, über das wir in Konstanz auch schon diskutiert haben. Dabei sah unser "Modell" etwas anders aus, nämlich: Die Literaturmittel für ein bestimmtes Fach werden dem Fachbereich zur freien Verfügung zugewiesen und er kann daraus Zeitschriften, Monografien, Dienstreisen oder Hiwis bezahlen. Soweit er sich für Literatur entscheidet, wird diese von der Bibliothek für die Bibliothek und damit alle Benutzer beschafft.
Dann passiert wohl folgendes: Die Fachbereiche müssen zwischen konkurrierenden Bedürfnissen abwägen. Dann wird, so unsere Prognose, deutlich mehr abbestellt bzw. weniger Literatur gekauft als derzeit - auch bei knappen Mitteln - , weil die Fachbereiche das Geld für andere Dinge lieber haben wollen. Damit führen sie aber den Nachweis, dass sie soviel Literatur, wie sie kaufen könnten gar nicht so dringend brauchen.
Die Probleme, die wir sehen, sind folgende:
a) Bei einem solchen Verfahren bleiben womöglich die Bedürfnisse der Studierenden auf der Strecke.
b) Wer kauft die Grundlagenliteratur aller Fächer, die zugleich eine Investition in die Zukunft darstellt? Wir befürchten, dass bei künftigen Berufungen mit etwas anderen Forschungsschwerpunkten als den derzeitigen noch nicht einmal die grundlegenden Werke vorhanden sind.
c) Ein Fachbereich beschafft vermutlich immer nur das, was er gerade aktuell braucht. Ein bibliothekarischer Bestandsaufbau, der in längeren Zeiträumen denkt, ist damit hinfällig, woraus sich die weitere Frage ergibt, ob und ggf. was das bedeutet und zwar für die Nutzer und auch für die Bibliothek.
Ungeachtet dessen wäre es natürlich betrüblich, wenn der Literaturetat nicht mehr der Bibliothek "gehört", aber das ist noch ein ganz anderer Aspekt.
Mit freundlichem Gruß und der Bitte, diese Antwort in InetBib einzubringen.
Gruß Klaus Franken
At 20:49 21.01.2004 +0100, you wrote:
Lieber Herr Franken, liebe Liste,
besten Dank für diese illustrative Geschichte, die den Kern der Zeitschriftenkrise deutlich offenlegt. Ökonomen nennen dies das Allmende-Problem, das immer dann entsteht, wenn Eigentumsrechte (wie hier bei einem zentralen Etat der UB) nicht definiert sind. Ökonomen empfehlen dagegen, Eigentumsrechte zu definieren. Also warum überlassen wir die Last der steigenden Preise für STM-Zeitschriften nicht den Wissenschaftlern bzw. ihren Lehrstühlen und Instituten? Denn wie Harold Moneymaker schreibt: "Kein Wissenschaftler würde soviel Geld ausgegeben."
Also warum nicht STM-Zeitschriften abbestellen und das ersparte Geld den Fakultäten überlassen, die dann selbst überlegen dürften, wie lange sie das mitmachen.
Nur weil wir am Produktionsprozess unbeteiligte Bibliothekare uns am Absatz beteiligen, funktioniert das Spiel so gut, wie Moneymaker schreibt.
Beste Grüße und schönen Abend Klaus-Rainer Brintzinger