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Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die erste Nachricht wird besonders unsere Bibliothekarinnen und
Bibliothekare interessieren: Der Europarat will Leitlinien zur Buch- und
Medienpolitik erarbeiten.
Die zweite Nachricht ist ein Bericht über den 1. UNESCO-Welttag der
Poesie, der von nun an immer am 21. März, zu Frühlingsbeginn,
stattfinden soll.
Damit man das Angebot der "lyrikline" in vollem Umfang nutzen kann,
braucht man allerdings einen PC mit Soundcard. Leute rüstet nach! Schon
wieder dieses militärische Vokabular, das mir gar nicht gefällt:
Schlagkraft der UNESCO, schlagkräftige Institute! Wir brauchen
Lebenstrost (Michael Naumann) und keine Schläge!
Die dritte Nachricht von der Verleihung der Goethe-Medaillen, die ich
gestern schon herumgeschickt habe, ist angereichert durch den scharfen
Senf, den die taz meinte, dazugeben zu müssen. Diese Medaillen werden
immer am 22. März, Goethes "Sterbetag" vergeben, früher hieß das
"Todestag".
Die vierte Nachricht weist auf den Film "Der Zug des Lebens" des
rumänischen Regisseurs Radu Mihaileanu hin und erklärt uns den
Unterschied zwischen Deutsch und Jiddisch.
Massel tov wünscht Ihnen
Hans Jürg Tetzeli v. Rosador
1. Pressemitteilung Nr. 118/00
Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung informiert:
Mi 22.03.2000
Staatsminister Dr. Michael Naumann eröffnet die
internationale Konferenz "Time for Choices" in
Leipzig
Staatsminister Dr. Michael Naumann, der Beauftragte
der Bundesregierung für die Angelegenheiten der Kultur
und der Medien, eröffnet am (morgigen) Donnerstag
zusammen mit Raymond Weber, Direktor der Abteilung
"Kultur und Kulturelles Erbe" des Europarats, die
internationale Fachkonferenz "Time for Choices". Im
Mittelpunkt der zweitägigen Veranstaltung in Leipzig
steht die Vorbereitung von Leitlinien des Europarates
zur Buch- und Medienpolitik.
Der Europarat hat Fragen der Buch- und Medienpolitik
zu einem Schwerpunkt seiner Arbeit gemacht. Ein
Ergebnis sind die im Januar 2000 verabschiedeten
Leitlinien zur Bibliotheksgesetzgebung und -politik in
Europa.
Die Konferenz in Leipzig befasst sich vor diesem
Hintergrund im einzelnen mit Fragen
der Herstellung, Verbreitung, des Zugangs und
der Nutzung von Veröffentlichungen in
gedruckter und digitaler Form,
der Stellung und Rolle des Buches und der neuen
Medien sowie der
Informations-/Wissensvermittler und der Nutzer
in der entstehenden Publikationskette und
innerhalb der Gesellschaft,
der regionalen Ungleichheiten und kulturellen
Unterschiede, die den Zugang zur
Publikationskette einschränken und die
Entwicklung der Gesellschaft erschweren.
Die Leitlinien sollen auf Anregung von Staatsminister
Naumann auf dem Ministerkolloquium des Europarats
im Herbst verabschiedet werden.
BPA-Referat "Kultur und Medien", Telefon 01888 272 3281, Fax
01888 272 3259, e-mail: 322 _at__ bpa.bund.de
2. BerlinOnline, Berliner Zeitung, 23. März 2000
Lied auf die
Lieblingskuh
Am 1. Unesco-Welttag
der Poesie stellte die
"lyrikline" ihre neuen
Pläne vor
Julia Kospach
Da saßen sie, die Dichter aus
drei Ländern und sehr viel mehr
Muttersprachen, in der
Literaturwerkstatt Berlin und
verhalfen mit ihrem Vortrag der
Poesie an derem neu
gegründeten Ehrentag, dem
ersten Unesco-Welttag der
Poesie, zu neuer Strahlkraft.
Der Schweizer Dichter Leo
Tuor, im blau-weiß groß
karierten Flanellhemd, las mit
laut tönender Stimme "Das Lied
des Hirten auf seine
Lieblingskuh". Las erst in
kehlig-erdigem Rätoromanisch
und dann auf Deutsch: "Sapia,
du sollst wissen, Sapia, du bist
meine Lieblingskuh" und "auch
die Alp ließe ich zugrundegehen
für dich". Las vom
"gletscherrunden Fels" und vom
Herbst, der über den Hirten
Giacumbert kommt, "bunt wie
der Narr im Tarock". Leo Tuors
Gedichte klangen hinreißend,
nicht im mindesten nach
Alm-Kitsch, nur fremd und
wunderbar. In verschrobener,
mehrsprachiger
Sprachakrobatik übte sich
Oskar Pastior. Verlockend fand
der deutschsprachige Dichter
aus Siebenbürgen nämlich die
Idee, dass "einen Tag lang jede
Sprache jede andere Sprache
spräche", verstieg sich in kühne
Sprachgemische, las ein Gedicht
im künstlichen Dialekt und eines
aus Wörtern, die auf -at enden:
"Südostpassat, Adressat,
Potentat, Attentat, Backzutat".
Solcherart launig und polyglott
beging man in der
Literaturwerkstatt den Welttag
der Poesie und startete
gleichzeitig die Erweiterung des
im Herbst initiierten,
hauseigenen Projekts "lyrikline".
In diesem Lyrik-Audioarchiv im
Internet, in dem - so
Literaturwerkstatt-Leiter
Thomas Wohlfahrt - die älteste
literarische Kulturtechnik und
das neue Medium Internet
zueinander finden, sind
mittlerweile 250 Gedichte von
25 Autoren zu hören und zu
lesen. Die "lyrikline" vereint
Text, Bild und Ton, dem
Gedicht ist die Stimme, die des
Autors nämlich, wiedergegeben:
Von Celan und Benn, Artmann,
Mayröcker und Grünbein, bis zu
Peter Waterhouse und Raphael
Urweider sprechen die Autoren
ihre Gedichte selbst. 30 000
Besucher aus über 50 Ländern
hatte die Site in ihren ersten 100
Tagen. Von diesem großen,
durch die Goethe-Institute
weltweit beförderten Erfolg
beflügelt, ist das bisher rein
deutschsprachige
lyrikline-Projekt nun in die
Phase der Internationalisierung
getreten. Die junge Dichterin
Orsolya Kalasz machte den
Anfang: Ihre Gedichte sind auf
Ungarisch zu hören, zu lesen
sind sie zudem auch in deutscher
Übersetzung. Gedichte in so
vielen verschiedenen Sprachen
wie möglich sollen
dazukommen, Übersetzungen in
all diese Sprachen angefertigt
werden. Wenn möglich pro
Sprache mehrere, damit der
Besucher der Website die
Möglichkeit hat, den Klang
unterschiedlicher Übersetzungen
mit dem des Originals zu
vergleichen. Ein
weltumspannendes
Internet-Lyrik- und
-Übersetzungsprojekt soll auf
diese Weise entstehen.
Folgerichtig haben Unesco und
Literaturwerkstatt Berlin
zueinander gefunden. Die
Literaturwerkstatt wird sich in
Zukunft des Unesco-Netzwerks
bedienen, um ihr
"lyrikline"-Projekt bekannt zu
machen. Die Unesco ihrerseits
sah in der Literaturwerkstatt den
idealen Deutschland-Partner für
ihren ersten Welttag der Poesie.
Ein Jahresbudget von nicht mehr
als 220 Millionen Dollar stattet
die Unesco mit geringer
Schlagkraft in der Durchführung
ihrer Projekte aus. Also verlegt
sie sich darauf, "das unreine
Gewissen ihrer 188
Mitgliedsstaaten zu sein", jenes
Gewissen, dem die Rolle zufällt,
darauf hinzuweisen, dass es im
Global Village um mehr gehen
muss als um wirtschaftliche
Entwicklung. Auf der letzten
Generalkonferenz der Unesco
im November des Vorjahres
ging es denn auch um Poesie.
Man einigte sich darauf, der
Poesie als zwar nicht unmittelbar
bedrohter, so doch
vernachlässigter Spezies
weltweit neue Impulse
angedeihen zu lassen. Zu diesem
Zweck rief man den 21. März
zum "Welttag der Poesie" aus.
Ein Ruf, der in Berlin deutlich
gehört wurde.
http://www.lyrikline.org
3. taz, die tageszeitung, 23. März 2000
Die diesjährigen Goethe-Medaillen sind am Mittwoch in Weimar
unter anderem an den Regisseur und Autor George Tabori sowie
an den Architekten Daniel Libeskind verliehen worden. Hilmar
Hoffmann, Präsident des Goethe-Institutes in München,
überreichte die Auszeichnungen im Festsaal des Stadtschlosses.
Die renommierte, aber relativ hässliche Medaille bekommen seit
1954 "Persönlichkeiten, die sich im Ausland um die deutsche
Sprache und den internationalen Kulturaustausch besonders
verdient gemacht haben". Tabori, so Hoffmann, sei "ein Wanderer
zwischen den Welten, der den deutschsprachigen Bühnen
Schrecken, Mitleid und Erkenntnis schenkte" (lautete so im
Deutschunterricht nicht die Definition für Katharsis?). Tabori habe
die deutsche Theatergeschichte nach 1945 entscheidend geprägt
und immer wieder die nationalsozialistische Vergangenheit
thematisiert.
Der US-Amerikaner Daniel Libeskind, der unter anderem das
Jüdische Museum in Berlin entworfen hat, setze der Zeit ihre
Zeichen, meinte Hoffmann weiter.
Als weiteres Zeitzeichen schlagen wir eine Goethe-Medaille zur
Förderung der deutschen Sprache in originellen
Würdigungsreden vor.
Ebenfalls im Goethe-Medaillenregen: Der ungarische Schriftsteller
György Konrád, die türkische Germanistin Sara Sayin, Nicholas
Boyle aus Großbritannien und der ägyptische Philosoph und
Übersetzer Abdel-Ghaffar Mikkawy. Die Auszeichnung wird
alljährlich zu Goethes Sterbetag am 22. März 1832 vergeben. Der
Festakt findet seit neun Jahren in Weimar statt, wo Johann
Wolfgang von Goethe fast 50 Jahre als Staatsmann, Botaniker,
Weinliebhaber, Knochenforscher und, ehem, ach ja, Dichter lebte.
4. DIE WELT online vom 23. März 2000
Der Narr zeigt den Weg im "Zug des
Lebens"
Von Margarete Wach
"Die deutsche Sprache ist sehr hart. Präzise und traurig. Jiddisch
ist eine Parodie des Deutschen. Hat jedoch oberdrein Humor." Um
Deutsch ohne jiddischen Akzent zu sprechen, reicht es den Humor
wegzulassen, rät der Deutschlehrer dem verdutzten Mordechai.
"Wissen die Deutschen, dass wir ihre Sprache parodieren?
Vielleicht ist das der Grund für den Krieg?" kontert der Holzhändler
in der selbst genähten SS-Uniform. Jüdischer Witz als
Schutzschild gegen den Wahnwitz der Historie.
Der Mut der Verzweiflung kann aber noch zu ganz anderen
Nachahmungstaten anstiften. So lässt in einem Shtetl irgendwo in
Südosteuropa die Nachricht von heranrückenden deutschen
Truppen bei den Bewohnern einen Entschluss heranreifen: Sie
inszenieren die eigene Deportation, um der drohenden
Verschleppung durch die Nazis zuvorzukommen. Ein Zug soll sie
auf dem Weg nach Palästina über die russische Frontlinie bringen.
Dass die Shtetl-Juden dabei der Idee des Dorfnarren Shlomo
aufsitzen, macht den Irrsinn der Aktion offenkundig. Während eine
Gruppe in SS-Montur die Bewacher spielen, müssen sich der Rest der
Dorfgemeinschaft, eingepfercht in Viehwaggons, in die Rolle der
Opfer fügen.
Bravourös meistert Radu Mihaileanu in seinem Shoah-Märchen
"Zug des Lebens" den Belanceakt zwischen Grauen und Komik,
ohne sich wie sein Vorgänger Roberto Benigni (eigentlich
Nachfolger, denn "Zug des Lebens" entstand vor "Das Leben ist
schön") dem Vorwurf der Verharmlosung auszusetzen. Die erste
Anregung zu seinem Film lieferte Spielbergs Holocaust-Drama
"Schindlers Liste". Bei aller Betroffenheit soll dem nach Frankreich
emigrierten Rumänen damals klar geworden sein, man könne
Shoah nicht fortwährend nur in den Kategorien von Tränen und
Schrecken erzählen.
Mit Mitteln der Persiflage und burlesker Überzeichnung beschwört
Mihaileanu die Macht der Fantasie, umschifft sogleich traumsicher
die Klippen der Peinlichkeit, ohne dass jemals die Versuchung
aufkommt, das aberwitzige Geschehen an historischer Wahrheit zu
messen. Reminiszenzen an große Vorläufer bleiben nicht aus: An
Lubitschs Charade "Sein oder nicht sein" (1942) oder Chaplins
flammenden Apell aus "Der große Diktator" (1940), dessen Echo in
Schlomos Plädoyer für die Menschlichkeit nachklingt.
Als Uniformierte den Zug kurz vor der Grenze stoppen, gipfelt die
Farce in einer doppelten Maskerade: Verkleidete Zigeuner, die wie
die Juden auf der Flucht sind, verbrüdern sich mit ihnen unter den
Klängen einer rauschhaften Klezmer- und Zigeunermusik. Im Finale
hat das letzte Wort der Narr - der mythische Lebenszug rast aber
weiter, auch wenn die geglückte Flucht nur ein Traum war.
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