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Re: Was ist eine virtuelle Bibliothek?
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
aus dem Urlaub zurueckgekehrt moechte ich der Diskussion meine Sicht
hinzufuegen, die an einen Aufsatz in NfD und die schon von Herrn
Pieper zitierte ARL-Definition anknuepft. Aus Gruenden der
Uebersichtlichkeit verzichte ich darauf, auf bereits Festgestelltes
qua Zitat zu verweisen.
>> virtuelle Bibliothek <<
Der Begriff "virtuelle Bibliothek" betont gegenueber den
Bezeichnungen "elektronische Bibliothek" / "digitale Bibliothek"
(s.u.) lediglich den Aspekt verteilter Ressourcen. In dem Masse, in
dem verteilte Datenbankkonzepte mehr und mehr eine
Selbstverstaendlichkeit werden, wird es entbehrlich, durch die Wahl
der Bezeichnung darauf besonders hinzuweisen.
(Historische Parallele: Im gleichen Sinne wurde schon das System der
preussischen Bibliotheken bestehend aus Koeniglicher Bibliothek und
etlichen Universitaetsbibliotheken als "virtuelle" Bibliothek
idealisiert, die durch den Preussischen Gesamtkatag erschlossen
wurde.)
>> "elektronische Bibliothek" vs. "digitale Bibliothek" <<
Der Begriff "elektronische Bibliothek" wurde - nicht abrupt, sondern
kontinuierlich - durch den Begriff "digitale Bibliothek" verdraengt,
als die Phase der Prophezeiungen, Spekulationen und Pilotprojekte
etwa seit 1994/1995 in die Realisierungsphase ueberging. Der neue
Begriff war eine Praezisierung, nachdem offenkundig war, dass nicht-
digitale elektronische Informationen praktisch keine Rolle spielen.
Ein Motiv war dabei sicher auch, den Ballast qualifizierter und
weniger qualifizierter Diskussionen und Assoziationen abzuwerfen, der
sich mit dem Begriff "elektronische Bibliothek" verband. Der
Sprachgebrauch geht dahin, diesen Terminus nur noch dann zu benutzen,
wenn grundlegende Aspekte elektronischer Vefuegbarkeit angesprochen
werden oder nicht-digitale elektronische Formen ausdruecklich
eingeschlossen werden sollen.
>> Was macht eine "digitale Bibliothek" aus? <<
1. Eine digitale Bibliothek ist eine Sammlung digitaler
Informationsobjekte. Diese beinhalten die Informationen, die der
Benutzer letztlich nutzen moechte. (Beispiele sind: Texte, Daten,
Bilder, Multimedia-Dokumente.) Die Sammlung wird gepflegt (ansonsten
handelt es sich um eine "tote" Bibliothek) und erfolgt i.d.R. nach
Auswahlkriterien, die typischerweise qualifiziert werden koennen als
thematisch, formal oder klientelbezogen. (Auch thematisch und formal
begrenzte Sammlungen werden aber aus praktischen und oekonomischen
Gruenden meist klientelbezogen erstellt.) Es ist unerheblich, ob sich
die Informationsobjekte auf einem oder auf mehreren Servern befinden
- dies koennen auch "fremde" Server sein -, wenn dies fuer die
Benutzung unerheblich ist.
2. Eine digitale Bibliothek beinhaltet i.d.R. Meatadaten und ggf.
"Metastrukturen". Letztere sind Relationen zwischen den
Informationsobjekten und/oder den Metadaten. Beispiele sind: Indizes
(trivial), Zitatverknuepfungen (bei Aufsaetzen), oder
Aehnlichkeitsrelationen. Metadaten und Metastrukturen dienen der
Beschreibung der Informationsobjekte und ihrer Relationen, bilden
aber zugleich die Voraussetzung fuer die interaktive Nutzung der
digitalen Bibliothek (vgl. 3.).
3. Die Nutzung einer digitalen Bibliothek ist gegeben durch
Praesentationsformen / "Findehilfen" , deren Spektrum von einer
strukturierten Seite ueber Browsing, Suche bis zu KI-Anwendungen
reicht in Abhaengigkeit von den in 2. beschriebenen Voraussetzungen.
Hiermit sind die Moeglichkeiten interaktiver Nutzung aber nicht
erschoepft. Weitere Beispiele sind: Dokumentation von Suchpfaden,
dynamische Veraenderung von Relationen und Objekten, Definition
individueller und kollektiver Sichten, ...
4. Die Auswahl der Informationsobjekte (1.) und die in 2. und 3.
beschriebenen Features machen den "Mehrwert" der digitalen Bibliothek
gegenueber den nachgewiesenen Objekten aus, die dadurch selbst zu
einem neuen, komplexen Informationsobjekt wird.
Eine Nutzanwendung ist die Frage:
>> Sind Link-Sammlungen virtuelle Bibliotheken? <<
Wenn die Links auf Dokumente verweisen, die die Benutzer letztlich
nutzen moechten, ist diese Frage zu bejahen:
Die Informationsobjekte , auf die die Links verweisen, befinden sich
i.d.R. auf verschiedenen Servern (verteilte Ressourcen, also
"virtuell"). Die Metadaten bestehen im Minimalfall aus den Links
selbst. Als Praesentationsform mag auch eine strukturierte Seite
taugen. Dennoch ist Vorsicht geboten: Nicht alles, was
definitorischen Mindestanforderungen genuegt, ist auch durch den
Sprachgebrauch abgedeckt. (Daher sollte man die Bezeichnung
vielleicht nur auf Link-Sammlungen anwenden, die in bezug auf
Qualitaet und Umfang ueberdurchschnittlichen Anforderungen genuegen.)
Wie verhaelt man sich nun gegenueber den teilweise hervorragenden
Wegweisern in Internet, die ueberwiegend auf andere Link-Sammlungen
und Datenbanken qua Links verweisen, - die sich "Virtuelle
Bibliotheken" nennen, aber nach dieser Definition eigentlich keine
sind? [Sozusagen Bibliotheken, die nur Kataloge beinhalten, aber
keine Buecher] Mein Vorschlag: Man unterscheide zwischen
"Individualnamen" und "Gattungsbezeichnungen". Zum Glueck braucht
bisher noch niemend bei irgendjemand einen Namen zu beantragen.
>> Oberbegriff zu "digitaler Bibliothek" und traditioneller Bibliothek
<<
Ich sympathisiere mit dem Vorschlag von Herrn Wolf, die schlichte
Bezeichnung "Bibliothek" zu verwenden. Das Problem ist, dass sich
deren elektronischer Teil meist nicht auf den Standort der
physischen Bibliothek reduzieren laesst. Dennoch: Die Bezeichnung
"Verbundbibliothek NRW" waere z.B. ein guter Name fuer das
bibliothekarische Gesamtsystem bestehend aus "Digitaler Bibliothek
NRW" und den physischen Verbundbibliotheken.
Wolfgang Binder
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.