Enzensbergers Bibliotheksschelte

["Klaus Doehmer" <Klaus.Doehmer _at__ ub.uni-dortmund.de>]

On 22 Oct 2002 at 11:48, Delin, Peter wrote:

>  Zur
> Verteidigung
> der Fahrkartenknipser muss man allerdings sagen, dass sie
> nur zu oft zwischen Baum und Borke stehen und manchmal gleichgültige,
> fahrlässige
> oder inkompetente Leitungsentscheidungen vertreten müssen. Bibliotheken
> sind bei uns leider noch zu sehr Behörden, zu viele werden noch im
> Behördenstil betrieben und auch geleitet. In solchen Einrichtungen
> herrschen quasi
> feudale Verhältnisse. Das Ergebnis sind Fahrkartenknipser.
>


Sehr geehrter Herr Delin,

diese Verteidigung, und das sagt Ihnen ein Fahrkartenknipser des
Höheren Dienstes,
kann ich nicht gelten lassen. Die meisten Leiter/innen bemühen
sich, nach meinen Erfahrungen, die Schwerkraft ihrer
Einrichtungen zu überlisten und die Beschäftigten zu bewegen,
sich auf den langen Marsch zu nutzerorientierten Diensten zu
begeben. Die Leitbild-Mode hat immerhin  d e n  nützlichen Effekt
gehabt, für dieses Ziel Bewußtsein zu schaffen. Es sind in
Gegenteil nicht  selten wir Nachgeordneten, die sich nur mit Mühe
aus ihren bürokratischen Schützengräben lösen.

Bei den Leitungen beobachtet man  schon eher eine Art von
Beflissenheit, die - in einer für den Öffentlichen Dienst heute
typischen Mischung aus schlechtem Gewissen und
Minderwertigkeitskomplex - bei der Verfolgung von
Nutzerinteressen den Grundsatz "Gemeinnutz geht vor Eigennutz"
aus dem Auge verliert. Den Wünschen einzelner, hinreichend
lautstarker Nutzer wird nicht selten das bonum commune der
(schweigenden) Mehrheit, soweit wir es glauben beurteilen zu
können, hintangestellt.

Und die "feudalen Verhältnisse"? Mag es noch geben. Aber auch
hier hat doch schon einiges getan. Ich bin überzeugt, daß die
Entscheidungsstrukturen in "der Wirtschaft" diese Bezeichnung
eher verdienen. Dort gibt es zwar keine so opulenten
Dienstgradbezeichnungen, aber das Prinzip Befehl und Gehorsam
wird weit weniger konsens-orientiert umgesetzt.

Ihren Anmerkungen zum "Amerika-du-hast-es-besser"-Topos kann man
indes nur zustimmen.

Mit freundlichen Grüßen

K. Döhmer





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