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FAZ-Artikel zum Reformbedarf der Bibliotheken



Bücher, Bücher - gibt's nicht mehr zu lesen? 

Der Reformbedarf der Bibliotheken / Von Rainer Kuhlen

Es ist schon ein Jammer - die Betroffenen bezeichnen es als Kulturschande -,
daß in den letzten Jahren in Deutschland über Bibliotheken selten
Erfreuliches berichtet wird. In dieser Hinsicht wird auch der Deutsche Bibliothekartag
wenig Neues bringen, der diese Woche in Augsburg zum 92. Mal stattfindet. Zu
der Schande gehört es, daß die politische Kulturlobby, so es sie überhaupt
noch für die Bibliotheken gibt, sich gegen die Sparmaßnahmen der
Finanzgewaltigen oder gegen andere politische Prioritäten kaum noch durchsetzen kann.
Jüngstes Beispiel ist das Scheitern des Innovationszentrums für Bibliotheken, das
als Teilnachfolge für das von der Politik 1999 nicht mehr für
förderungswürdig erklärte Deutsche Bibliotheksinstitut (DBI) gedacht war.

Auch der Wissenschaftsrat meint es nicht gut mit den Bibliotheken. Er
formuliert, "daß die Hochschulbibliotheken sich noch nicht hinreichend zu Zentren
der Versorgung mit digitalen Informationen und Publikationen entwickelt haben
und die Lehrenden und Lernenden mit entsprechenden Schulungen und
Dienstleistungen nicht in ausreichendem Maße unterstützen".
Selbst die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Hort der
Bibliotheksförderung, setzt weniger auf die Institution Bibliothek als auf die Funktion der
Informationsversorgung, die zunehmend eben über virtuelle, nicht an den Ort
gebundene digitale Bibliotheken geleistet wird. Das Bundesministerium für
Bildung und Forschung (BMBF), im Einklang mit den
entsprechenden EU-Förderprogrammen, schätzt es ähnlich ein.

Ein Indiz für den auch wissenschaftlichen Prestigeverlust ist die fast
vollständige Auslagerung der entsprechenden Forschung in die Zuständigkeit der
Informatik. An den Förderprogrammen von DFG, BMBF oder EU nehmen fast exklusiv
Informatiker teil. Selbst am einzigen universitären Institut in Deutschland,
das sich an der Humboldt-Universität Bibliothekswissenschaft nennt, kann
angesichts seines anhaltenden institutionellen Überlebenskampfes kaum noch
geforscht werden - Humboldt weiß offenbar nicht so recht, was es mit einem Institut
für Bibliothekswissenschaft anfangen soll.  In Zukunft wird wohl
wissenschaftlich, wenn überhaupt, über Bibliotheken auf Informatik-Tagungen verhandelt,
und nur noch am Rande auf Bibliothekarstagungen wie der jetzigen in Augsburg. 

Wer leiht eigentlich in wissenschaftlichen Bibliotheken aus? Schwierig,
darüber quantitative Aussagen zu bekommen. Von den knapp 1,8 Millionen
Studierenden in Deutschland sind weit über 50 Prozent in den sogenannten
Buchwissenschaften eingeschrieben - 32 Prozent in Rechts-, Wirtschafts- und
Sozialwissenschaft und 24 Prozent in Sprach-/Literatur- und   Kulturwissenschaft.  Dies ist
natürlich nur ein Hinweis, aber wird es bald einerseits die Bibliotheken der
Buchwissenschaften geben, eher die Archive des Wissens, und andererseits die
modernen Referenzeinrichtungen, die kaum eigene Bestände haben, aber
umfassende Nachweis- und                  Auslieferungsleistungen überwiegend
digitaler Wissensobjekte erbringen? 
Bibliotheken in Deutschland, so muß man sagen, werden von der Mehrheit der
sogenannten innovativen Wissenschaften (Natur-, Ingenieurwissenschaften,
Medizin, Informatik) nicht mehr als der primäre Ort der Informationsversorgung
angesehen. Viele der produktivsten Wissenschaftler haben seit Jahren nicht mehr
eine Bibliothek betreten. Sie kümmert das
Klagen über die teuren Bücher und Zeitschriften nicht, für ihre
informationelle Absicherung haben sie längst andere Quellen erschlossen. Daß sie diese
Quellen oft nur deshalb nutzen können, weil die Bibliothek, für sie fast
unsichtbar, den Zugriff auf die Online-Datenbanken oder auf die E-Journals vom
Arbeitsplatz aus gesichert hat, registrieren sie jedoch kaum.

Stehen wir also vor einem Schisma der Informationsversorgung? Hier die
Archive für die Buchwissenschaften, dort die Infrastruktureinrichtung für
Information und Kommunikation, die auf die digitale Klientel abzielt? Die
Bibliotheken, darin auch vergleichbar den Fachinformationszentren, sehen sich einer
gewissen Unklarheit ihres politischen Auftrags ausgesetzt,
und sie lamentieren darüber. Sie leben in der Spannung zwischen allgemeinem
Kulturauftrag (Wissensobjekte sammeln und bereithalten, ohne das Kriterium
der aktuellen Nutzung alleinbestimmend werden zu lassen) und Informationsbörse
(den Zugang zu Informationen eröffnen, die aktuell gebraucht werden).
Zugangs- und Zugriffssicherung - das sind die neuen
Leitworte der Informationsversorgung in den digitalen Räumen. Auch das ein
Hinweis auf das bevorstehende Schisma?

Wenn das neue Bild vorherrschend wird, muß dann nicht die gesamte
Bibliotheksplanung, allein schon mit Blick auf den  Bibliotheksbau (wieviel Raum
brauchen virtuelle Bibliotheken?), aber auch hinsichtlich der Qualifikation des
Personals und der Dienstleistungen, revidiert werden? Ein drastisches Halt, eine
dramatische Umschichtung der ohnehin nur geringen, für die
Informationsversorgung eingeplanten öffentlichen Mittel wäre angesagt. Die wirklichen
Konsequenzen der tendenziell vollständigen Digitalisierung der Wissensobjekte und der
neuen verteilten Organisations- und Geschäftsmodelle für den Umgang mit
Wissen und Information, die nicht mehr an die Institution Bibliothek gebunden
sind, wohl aber an
bibliothekswissenschaftliche Methoden im neuen technischen Gewand - diese
Konsequenzen sind noch gar nicht allen klar. Unter einfältigen Namen wie
"Hybride Bibliothek" für das Nebeneinander von gedruckten und elektronischen
Informationsobjekten drohen sie zu verschwimmen. Die Bibliotheken sprechen
von finanzieller Zerreißprobe und setzen zur Kostenreduktion und
Ablaufoptimierung verstärkt auf betriebswirtschaftliche Steuerungsinstrumente. Der Umbau
der Infrastruktur für die Informationsversorgung an Hochschulen wird jedoch
drastischer sein.

Was wird also aus den Bibliotheken werden? Wohl noch lange bleiben sie
kultursichernde Institution und - warum auch nicht? - Archiv der gedruckten
Bestände. Ihre neue Rolle wird die Bibliothek aber nur in der Zuständigkeit für das
Wissensmanagement finden. Management heißt hier die Koordination der
internen und externen, tendenziell vollständig digital repräsentierten Ressourcen
des Wissens und die direkte Unterstützung der Wissensproduktion selber. Viele
bezweifeln, ob das Kompetenzprofil der bisherigen Bibliothekare für die
zunehmend technischer werdende Aufgabe des
Wissensmanagements ausreichen wird. Die anvisierte Integration der
Infrastrukturbereiche für Information und Kommunikation eröffnet hier die Chance, die
geeigneten Personen aus bislang getrennten Bereichen zusammenzuziehen,die für
diese Aufgabe qualifiziert sind. In längerer Sicht wird es ohnehin
unvermeidbar sein, daß in der informatischen Ausbildung die informationsmethodischen
und informationswissenschaftlichen Elemente noch stärker integriert werden, so
daß sich von dort das benötigte Personal rekrutieren kann.

Bibliotheken werden in der Öffentlichkeit weiter primär mit Büchern
assoziiert. Wohl zu Recht. Aber der Begriff ist, heute unter der Bezeichnung
"digitale Bibliotheken", weiter geworden. Gemeint sind damit Funktionen der
Informationsversorgung  über Objekte in beliebigen Medien. Wenn das dann weiter
Bibliothek heißen soll, wird das sicher keine Schande sein.

Der Autor lehrt Informationswissenschaft an der Universität Konstanz.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.04.2002, Nr. 81 / Seite 46 

Quelle: http://www.faz.net/
                           

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