[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]
[InetBib] Handschriften als Politikum
- Date: Tue, 26 Sep 2006 10:02:39 +0200 (CEST)
- From: Eric Steinhauer <eric.steinhauer@xxxxxxxxx>
- Subject: [InetBib] Handschriften als Politikum
Liebe Liste,
die Vorgänge um die Badischen Handschriften sind bei aller Betrübnis ein
interessantes Beobachtungsfeld für Bibliothekspolitik. In Stuttgart (HdM) soll
es ja eine einschlägige Professur geben ...
Hier ein paar Gedanken aus dem Thüringer Wald:
I. Proteste
Offenbar gelingt es kaum, die Öffentlichkeit für den Fall in größerem Umfang zu
interessieren. Die - zahlenmäßig zu vernachlässigenden - Kreise, deren
Augenmerk üblicherweise auf Handschriften gerichtet ist, kennen keine
öffentliche Protestkultur. Aus Sicht der Politiker heißt das: Hier gibt es
wohlfeile Bauernopfer.
II. Umgang mit Altbestand in der Bibliothek
Es darf als tödlich gelten, wertvolle Bestände weitgehend unter Verschluß zu
halten. Eine offensive Ausstellungspolitik verbunden mit ausgedehnter
Digitalisierungstätigkeit sowie Integration universitäterer Forschungsvorhaben
spannen ein Netz, das im Fall der Fälle Rückhalt gibt, wenn es um den Erhalt
wertvoller Sammlungen geht. Öffentlichkeitsarbeit und Altbestand sind in
Zeiten, in denen Kultur nicht mehr selbstverständlich ist und sich zunehmend
legitimieren muß, eine absolut notwendige Kombination. Die Spitzweg-Ära ist
definitiv vorbei, auch bei "Handschriftens".
III. Handschriften als Politikfeld
Hier wird jeder Berufspolitiker zunächst abwinken. Es ist daher notwendig, die
Handschriften in einen anderen Kontext zu stellen. Denkbar wäre dies:
Unabhängig von ihrem konkreten Inhalt, der in der Tat nur für wenige
Interessenten von Bedeutung ist, symbolisieren Handschriften in einzigartiger
Weise Geschichte. Sie sind Zeugnis und beredter Überlieferungsträger in einem.
Keine andere Hinterlassenschaft kann für sich in Anspruch nehmen, Geschichte
schlechthin zu sein.
Dieses Bild wird auch von der breiteren Öffentlichkeit verstanden. Alte Bücher
und geheimnisvolle Handschriften sind beliebte Themen populärer Literatur und
Bestandteil des visuellen Gedächtnisses weiter Kreise. Man denke nur an
Harry-Potter-Filme und dergleichen. Hier gibt es eine Grundsympathie für altes
Schriftgut, die zu aktivieren wäre.
Eine pessimistische Sicht würde sagen, erst wenn die Handschriften brennen,
bekommen sie Aufmerksamkeit. Diese Ansicht teile ich aber nicht. Obwohl, als
Thüringer, hm, .... :-/
Handschriften sind aber nicht nur Symbole der Geschichte, sie sind auch "Ikonen
der Wissensgesellschaft". Ein Gemeinwesen, in dem Wissen und Information eine
entscheidende Rolle spielen, braucht einschlägige Hinterlassenschaften .
Ein Bundesland wie Baden-Württemberg, das mir Recht auf Tradtionen setzt,
beginge mit dem Verlust der Handschriften einen schweren "Branding-Fehler". Es
ist nach dem Verkauf von Handschriften nicht mehr glaubwürdig, eine
"Wissensgesellschaft aus Tradition" sein zu wollen. Das wäre übrigens ein guter
Slogan: "Wissensgesellschaft aus Tradition", um den Erhalt der Handschriften
politisch zu legitimieren. Sollten die Handschriften im Land bleiben, dann muß
dies politisch erfolgreich vermarktet werden. Eine große Ausstellung, ein
opulenter Katalog, Digitalisierung, Webpräsenz, Forschungsprojekte. Alles das
zusammengenommen wäre eine optimistische Vision und ein guter Startschuß für
die "Wissensgesellschaft aus Tradition". Ein Kulturpolitiker mit Phantasie kann
sich hier gut profilieren.
IV. Was kann man sonst tun?
Wissenschaftler vor Ort sollten JETZT in großem Stil Anträge auf Benutzung der
Handschriften stellen. Schließlich gilt es, das kulturelle Erbe kurz vor Schluß
zu sichten. Bei Zulassungsproblemen lassen sich juristische Wege beschreiten.
Alles das vielleicht keinen Erfolg, aber Zeit. Eine vollständige
Digitallisierung der Handschriften sollte überdies SOFORT begonnen werden. Wenn
die Handschriften nicht mehr zu retten sind, dann sollte wenigstens die
textliche Information öffentlich zugänglich bleiben. Es wäre ein Armutszeugnis,
wenn in einem Land mit einem gut entwickelten Bibliothekswesen noch nicht
einmal dies möglich wäre.
Schönes Grüße aus der "Denkfabrik" an die, "die alles außer Hochdeutsch
können". :-)
Eric Steinhauer
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.