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Re: [InetBib] Grundsatzfragen zur aktuellen Wissenschafts-Debatte



Lieber Herr Umstätter, lieber Herr Hinte,

danke sehr für Ihre Reaktionen und Meinungen sowie für die interessanten 
Informationen. 

Ich habe den Eindruck, dass das benannte und lange bestehende Problem durch die 
angestrebte Urheberrechtsreform und die DEAl-Verhandlungen erneut hochkocht. 
Dass es kurzfristig keine Lösungen geben wird, ist mir bewusst. Aber auf eine 
langfristige Lösung sollte gemeinsam hingearbeitet werden. Jede Seite hat ihre 
eigene Perspektive auf die Umstände: einerseits werden offenbar, wie Herr 
Umstätter aus eigener Erfahrung schildert, seitens der Verlage 
Profit-Strategien angewandt, die das Publikations-Dilemma der Wissenschaftler 
ausnutzen. Andererseits scheinen wiederum, wie ich einmal gelesen habe, 
teilweise kleinere Wiss.-Verlage durch Autoren im Zugzwang zu stehen, bestimmte 
Zeitschriften an größere Verlage zu verkaufen, da die Autoren bzw. 
Wissenschaftler ansonsten Verschlechterungen in der Wahrnehmung ihrer 
Publikationen in den Bibliotheken befürchten würden. Die Bibliotheken sind 
wiederum durch die Angebots-Konzepte der größeren Verlage gezwungen, ganze 
Zeitschriften- oder E-Book-Pakete einzukaufen, anstatt eine konkrete Auswahl 
treffen zu können (an dieser Stelle und gegen die Preissteigerungen im Bereich 
der Zeitschriften hätten evtl. die Bibliotheken gemeinsam mit den Verbänden 
gegen die Verlage rechtlich vorgehen müssen). Sicher kann diese Aufzählung um 
viele Gesichtspunkte ergänzt werden. U.a. um die wachsende Anzahl an 
Wissenschaftlern und das offensichtlich vorhandene Phänomen der "Quantität". 

Da diese Liste auch von TeilnehmrInnen anderer Branchen gelesen wird, möchte 
ich gern damit alle Seiten ansprechen: ich denke, diese Tatsachen sind ein 
Zeichen dafür, dass umgedacht und gehandelt werden muss. Es sind nachhaltige 
Konzepte gefragt - sowie Mut. Mut zu Eingeständnissen auf allen Seiten sowie 
Verantwortung, getragen ebenfalls von allen Seiten. Wie Herr Hinte schreibt: 
"wird dies nur funktionieren, wenn nicht mit falschen oder unvollständigen 
Informationen operiert wird".               

Die Fachkonferenz Academic Publishing in Europe (APE) (http://www.ape2017.eu/) 
beschäftigt sich mit ähnlichen Fragen des wissenschaftlichen Publizierens, 
insbesondere im Hinblick auf Open Access. Die diesjährige Konferenz umfasste 
das Motto "Publishing Ethics": 
http://www.b-i-t-online.de/heft/2017-01-reportage-muench.pdf. Lt. Bericht wird 
von dem Organisator der APE, Arnoud de Kamp, betont, dass "internationale 
Vereinbarungen" und "ethische Prinzipien" im Bereich des akademischen 
Publizierens notwendig seien. Interessant und gleichzeitig ironisch finde ich, 
dass Richard Horton, Chefredakteur der Fachzeitschrift "The Lancet" (Elsevier) 
in seiner Berliner Deklaration (http://thelancet.com/BerlinDeclaration2017) 
u.a. zu "Gerechtigkeit" aufruft. Auffallend ist außerdem, dass die Teilnehmer 
überwiegend aus den Bereichen der großen Wissenschaftsverlage oder größeren 
wiss. Einrichtungen stammen. 

Vielleicht wäre zu diesem Thema ein Format in Anlehnung an die APE 
erstrebenswert, dass aber Vertreter sämtlicher Bereiche berücksichtigt, um alle 
Belange auf den Tisch zu bringen (auch die der kleineren Einrichtungen), damit 
künftig langfristig gesehen ein effektives und ethisch vertretbares 
Publikations-System geschaffen werden kann.  

Freundliche Grüße
Christine Guntermann


-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: InetBib [mailto:inetbib-bounces@xxxxxxxxxx] Im Auftrag von Walther
Umstaetter via InetBib
Gesendet: Freitag, 10. März 2017 18:29
An: inetbib@xxxxxxxxxx
Betreff: Re: [InetBib] Grundsatzfragen zur aktuellen Wissenschafts-
Debatte

Liebe Frau Guntermann,

das Problem dass Sie ansprechen, wird ja schon seit Jahrhunderten (s.
Leibniz www.wissenschaftsforschung.de/JB00_179-200.pdf) beklagt. Es ist
aber weniger eine Frage der Publikations „-wut“, als des
Wissenschaftswachstums. Wenn sich sowohl die Zahl an wissenschaftlichen
Publikationen als auch die an Wissenschaftlern seit Jahrhunderten
konstant alle 20 Jahre Verdoppelt, dann produzieren
Wissenschaftler/innen schon immer durchschnittlich eine Publikation pro
Jahr, mit der sie sozusagen belegen, wofür sie im letzten Jahr bezahlt
wurden. Übrigens – da sich die Menschheit nur in etwa 50 Jahren
verdoppelt, kann man ausrechnen, wann es auf dieser Erde nur noch
Wissenschaftler geben wird (www.ib.hu-berlin.de/~wumsta/price14.html).

Eigentlich hätte da die Big Science längst zusammenbrechen müssen, wenn
nicht einerseits die Online-Revolution mit dem Weinberg Report 1963, und
damit die Digitaliseirung, uns gerettet hätte, und andererseits das
Bradford's Law of Scattering uns gezeigt hätte, wie Interdisziplinarität
(www.ib.hu-berlin.de/~wumsta/lectg.html) und Arbeitsteilung in der
Wissenschaft funktioniert. Kürzer gesagt, Wissenschaftler spezialisieren
sich zwangsläufig immer mehr.

Ein wirkliches Problem sehe ich aber darin, dass nun im Open-Access-
Bereich immer mehr Verlage nach zahlungskräftigen Autoren suchen, die
nicht selten dazu gezwungen sind zu zahlen, um im publish-or-perish
nicht zurück zu fallen. Ich bekomme jedenfalls fast täglich Anfragen von
Zeitschriften, die für article publication charges
(APC) Aufsätze einwerben, von denen etliche auch noch hijacked sind.

Ansonsten haben Sie völlig Recht, hier ist etwas aus dem Ruder gelaufen,
weil im Überlebenskampf der Verlage, diese die Bibliotheken im digitalen
Bereich enteignen ließen, und damit war für die Digitale Bibliothek
Schluss mit lustig.

Nach den letzten Diskussionen über den Referentenentwurf zur E-Leihe
habe ich endlich verstanden, warum Bibliotheken E-Books gar nicht
käuflich erwerben können – weil sie kein Kulturgut sind! Anderenfalls
würde ja die reduzierte Mehrwertsteuer gelten. Jetzt müsste man nur noch
klären, ob damit alle elektronischen Dokumente, soweit sie nicht an
einen Informationsträger gebunden sind, zu Schund und Talmi zu rechnen
sind ;-) Man erinnert sich, das war das, wogegen der Schutzverband
deutscher Schriftsteller www.theodor-heuss-haus.de/theodor-
heuss/weimarer-republik/ einst gekämpft hat.

MfG
Walther Umstätter



Am 2017-03-10 16:04, schrieb Oliver Hinte via InetBib:
Liebe Frau Guntermann,

das sind noble Fragen, die Sie stellen, allerdings sehe ich
kurzfristig keine Lösung für diese Themen.

Daher frage ich
mich, ob es nicht sinnvoll wäre, dass die Wissensschaft ihre eigene
Situation dahingehend einmal genauer hinterfragt?
Das Problem der Publiaktionsflut und -wut existiert unstreitig.
Allerdings bemisst sich das Renommee in der Wissenschaft

häufig anhand der Anzahl der veröffentlichen Publikationen. Dies zu
ändern wird schwierig sein.

Ebenso überlege ich, ob nicht auch einige (Wissenschafts-)Verlage,
die von dieser Publikationsflut profitieren, ihre Vorgehensweise im
Hinblick auf "Fairen Handel" überdenken sollten.
Dies bleibt im Verdrängungswettbewerb des Publikationswesens leider
auch nur ein frommer Wunsch.

Und schließlich
Ich denke, dass die genannten Parteien eine Symbiose bilden sollten
und habe aber derzeit das Gefühl, dass es aus dem Ruder läuft.
Da gebe ich Ihnen ebenfalls Recht, allerdings wird dies nur
funktionieren, wenn nicht mit falschen oder unvollständigen
Informationen operiert wird, siehe www.publikationsfreiheit.de

Mit freundlichen Grüßen
Oliver Hinte


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.