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Re: [InetBib] Beitrag zur aktuellen Bibliotheksdebatte
- Date: Mon, 15 Feb 2016 15:21:17 +0100
- From: Christoph Deeg <christoph.deeg@xxxxxxxxxxxxxx>
- Subject: Re: [InetBib] Beitrag zur aktuellen Bibliotheksdebatte
Lieber Jochen,
erstmal vielen Dank für Deinen Kommentar. Indes ich vermag keine wirklich
Widersprüche zu entdecken...
Du findest die Debatte über das Digitale im Kontext der Bibliotheksarbeit
steril. Da stimme ich Dir zu aber ich meine mit steril wahrscheinlich etwas
anderes. Und wenn wir schon von steril reden - ich glaube es ist eher ein
steriler Umgang denn eine sterile Diskussion. Das Thema wurde viel zu oft
auf einer rein theoretischen Ebene diskutiert. Dabei sind wir schon längst
viel weiter. Ich weiß nicht, was Du mit "Sprachregelungen" und "großen
Worten" meinst, aber ich glaube auch nicht, dass wir uns wirklich über
sprachliche Nuancen austauschen müssen, wenn es um die Frage geht, wie
Bibliotheken als Ganzes Teil der Digitalisierung unserer Gesellschaft
werden können (der letzte Halbsatz wird dein Unbehagen sicherlich
bestätigen)
Deine Einlassung zum Buch als "besonderes Medium" wundert mich. Niemand
bezweifelt, dass das Buch ein besonderes Medium ist. Es beinhaltet
Informationen und ist zudem in der Lage, sie auf besondere Art und Weise zu
strukturieren und - wenn es gut gemacht ist - auch Wissen zu vermitteln.
Jedoch ist das Buch trotz allem nur eine von vielen Plattformen. Natürlich
gibt es Menschen, die Skripte etc. ausdrucken. Aber darum geht es hier doch
gar nicht. Denn:
1. Die selben Lernenden nutzen Soziale Medien, Youtube-Videos, Podcast etc.
als gleichberechtigte Medien. Sie kommunizieren ihre Inhalte auf
unterschiedlichen analogen und digitalen Kanälen. Was sie aber gleichzeitig
erleben ist, dass ihr Lernumfeld (Schule. Bibliothek etc.) hier nur selten
passenden Angebote zur Verfügung stellt.. Das Buch hat viele Vorzüge - aber
das haben Plattformen wie Youtube eben auch. Das Buch ist eben nicht besser
oder schlechter, nur weil es ein Buch ist. Und Bibliotheken haben die
Möglichkeiten, für alle diese Kontexte alternative Medien zu nutzen. Man
kann z.B. Leseförderung mit Büchern machen, man kann es aber auch mit Games
oder anderen Medien tun.
2. In öffentlichen Bibliotheken wird das Buch bzw. der gesamte Bestand
nicht nur im Kontext von Bildung sondern auch im Kontext von kulturellen
Aktivitäten bis hin zum Entertainment genutzt. Und hier können wir den
Prozess noch intensiver beobachten. Bibliotheken sind ja sowohl Bildungs-
als auch Kulturinstitutionen. Insofern ist m.E. der Vergleich mit Vinyl
sehr wohl naheliegend. In beiden Fällen geht es darum, dass ein Medium im
Kontext einer individuellen Ausgangslage (Kultur, Bildung etc.) sowie
individuellen Zielen (Funktionalität, Art der Vermittlung, etc.) ausgewählt
wird. Dabei kann die Auswahl natürlich auch extrinsisch motiviert sein,
wenn z.B. Schulen nur Bücher und keine alternativen Medien nutzen.
Deinen Einwand im Kontext von Lehrern kann ich ebenfalls nicht
nachvollziehen. Niemand hat behauptet, man müsse nur digitale Medien nutzen
und dann würde alles gut werden. Ich habe ja gerade darauf verwiesen, dass
es nicht darum geht, Technologien bzw. digitale Angebote als Selbstzweck
einzuführen, sondern dass es darum geht,einen didaktischen Kontext zu
erstellen, in dem sich die Nutzung digitaler Medien lohnt (was ja bei
analogen Medien auch nicht immer erfolgreich umgesetzt wird) Genau das ist
es ja, was Lehrer wie Andre Spang äußerst erfolgreich tun. Aber es stimmt
eben auch, dass Schule als Ganzes noch immer sehr weit von einer aktiven
Nutzung des Digitalen entfernt ist.
Und kommen wir nun zum letzten Punkt. Ich möchte kurz beschreiben, was ich
damit meine: Wir erleben eine Gesellschaft, in der es für immer mehr
Menschen völlig normal ist, sowohl mit analogen als auch mit digitalen
Medien, zu arbeiten, zu kommunizieren, zu lernen, sich kulturell
auszudrücken etc. Gerade die digitalen Medienformen stehen weniger für für
Technologien als vielmehr für eine neue Kultur bzw. eine neue Form zu
kommunizieren, zu denken und zu arbeiten. Youtube ist eben nicht nur eine
Plattform zum Teilen von Katzenvideos, es ist ebenso die zweitgrößte
Suchmaschine und eine der größten Weiterbildungsplattformen der Welt. Der
analoge Raum wird durch Bibliotheken schon seit sehr langer Zeit
mitgestaltet. Sei es durch die Gebäude, sei es durch die Arbeit mit
analogen Medien, sei es als Lernort, als Kulturort etc.
Während wir im analogen Raum Öffentlichkeit und öffentlichen Raum (z.B.
Bibliotheken) kennen, gibt es im digitalen Raum nur Öffentlichkeit aber
eben keinen öffentlichen Raum. Im digitalen halten sich Kultur und Bildung
vornehm zurück. Dabei brauchen wir diese Institutionen auch dort.
Wenn wir es in unserer Gesellschaft mit digital-analogen Lebenrealitäten zu
tun haben (Menschen nutzen und gestalten sowohl digitale als auch analoge
Medien), wenn wir zudem akzeptieren, dass kein Medium an sich besser als
ein anderes ist, und dass es vielmehr um Nutzungskonzepte und -strategien
geht, und wenn Bibliotheken die Aufgabe haben, im Rahmen ihrer
Möglichkeiten, unsere Gesellschaft mit zu gestalten, dann bedeutet das
letztlich, dass sie so wie im analogen auch im digitalen durch eine
Vielzahl an Aktivitäten gestalterisch tätig werden sollten. Wo beginnen
z.B. Bibliotheken, Youtube-Videos als Teil ihres Bestandes zu sehen bzw.
diese Videos mit in ihre Beratungsangebote aufzunehmen?
Eine Bibliothek allein ist nicht in der Lage, hier in irgendeiner Form
etwas zu bewegen. Das kann auch keine Bibliothek im analogen Raum. Aber ein
Netzwerk von hunderten Bibliotheken, die gemeinsam digital (sei es Social
Media, seien es neue Formen von OPACs, sei es die gemeinsame Erschließung
von Youtube und Co., sei es die gemeinsame Umsetzung von Gaming-Projekten)
aktiv sind, beginnt einen Gestaltungsprozess. Und dies eben nicht als
Gegenmodell zum Buch sondern als mit ihm. Wenn Dir das als Erklärung nicht
reicht, können wir gerne in Leipzig bei einem Bier darüber reden und ich
zeige Dir konkrete strategische Ansätze dafür...
Herzliche Grüße
Christoph Deeg
Am Sonntag, 14. Februar 2016 schrieb Stadtbücherei Nordenham :
Lieber Christoph, liebe Community,
die Debatte über die Konsequenzen des "digitalen Wandels" für die
Bibliotheken empfinde ich als weitgehend steril. Ich habe den Eindruck,
dass seit Jahren immer am gleichen (geistigen) Zaun entlang gerannt wird.
Das hat m. E. viel mit inzwischen fest etablierten Sprachregelungen und dem
leichtfertigen Gebrauch von (großen) Worten zu tun.
Um das einmal kurz - schließlich ist heute Sonntag - zu demonstrieren:
*CD: Wir erleben im Moment nicht den Untergang, sondern die Renaissance
des gedruckten Buches und vieler anderer analoger Medien. Dies geschieht
aber nicht als Gegenbewegung zum digitalen Raum, sondern als Element eines
bewussten, individuellen Prozesses der Selbstinszenierung.*
Nein. Das mag für Vinyl stimmen, aber nicht für das Buch. Warum drucken
Studierende Skripte aus? Warum werden wissenschaftliche (vor allem
Lehr-)Bücher mit Vorliebe als Print gelesen? Weil es schlicht praktisch
ist. Es ist viel einfacher zu handhaben, es kann vor- und zurückgeblättert
werden, mal kann anstreichen, Notizen hineinschreiben etc. All das geht
auch digital, ist aber viel aufwendiger und mühsamer zu verwalten. Man
verliert viel schneller den Überblick. Das hat mit einer banalen Sache zu
tun: ein Buch ist dreidimensional. Der Übergang von der Schriftrolle (auch
ein Display ist zweidimensional) zum Codex erleichterte es deutlich, eine
Ordnungsstruktur darzustellen. Hinzu kommt, ein "Buch" (auch wenn es
digital vorliegt) ist ja nicht einfach "Information", es wählt Quellen aus
und bereitet sie auf, strukturiert, analysiert und argumentiert etc. Das
alles unter dem Hohlwort "Information" zu subsumieren führt in die Irre und
in letzter Konsequenz zu einem massiven "Informationsverlust".
*CD: Immer mehr Lehrer suchen intensiv nach Wegen, digitale Medien im
Kontext von Bildung zu nutzen. Hier ist längst verstanden worden, dass das
Internet voll von relevanten Informationen ist,...*
Eben nicht. Wir haben an der Schule kein "Zugangsproblem", wir haben ein
"Verarbeitungsproblem". Es geht hier um Wissenserwerb und der findet nicht
automatisch beim Zugriff auf "Information" statt, sonst gäbe keine Didaktik
und keine Lernpsychologie. Ob der Einsatz digitaler Kanäle
Wissensfortschritte bringt, hängt von ganz vielen Faktoren ab, wobei die
technische Ausstattung das geringste Problem darstellt. Hier wird noch viel
Arbeit, besonders in der Fort- und Ausbildung der Lehrenden zu leisten
sein.
*CD: Es geht darum, den digitalen Wandel zu wollen und daraus
digital-analoge Lebens-, Kultur- und Bildungsrealitäten zu entwickeln.*
Das sind genau die großen Worte, die ich fürchte. Wie sollen wir in
unseren Bibliotheken "analog-digitale Lebensrealitäten" entwickeln? Was
soll das sein?
Mit freundlichen Grüßen
Jochen Dudeck
Stadtbücherei Nordenham
An der Gate 11
26954 Nordenham
04731 923210
http://www.stadtbuecherei-nordenham.de
Blog: http://nordenhamerbuecherei.wordpress.com
Am 13. Februar 2016 um 16:05 schrieb Christoph Deeg <
christoph.deeg@xxxxxxxxxxxxxx
<javascript:_e(%7B%7D,'cvml','christoph.deeg@xxxxxxxxxxxxxx');>>:
Liebe Liste,
da ich in den letzten Jahren mit einer Vielzahl an öffentlichen
Bibliotheken arbeiten durfte, habe ich mir erlaubt, ebenfalls einen
Kommentar zu dem Interview in der NZZ zu schreiben. Sie finden ihn
hier:
http://christoph-deeg.com/2016/02/13/quo-vadis-oeffentliche-bibliotheken-gedanken-zum-nzz-interview-von-rafael-ball-eth-bibliothek/
Beste Grüße
Christoph Deeg
--
Christoph Deeg
Social Media - Social Media Risk - Gamification - Digitale Strategien
Neusser Wall 16
50670 Köln
Tel.: +49(0)157-73808447
Mail. christoph.deeg@xxxxxxxxxxxxxx
<javascript:_e(%7B%7D,'cvml','christoph.deeg@xxxxxxxxxxxxxx');>
Web: www.christoph-deeg.de
--
Das Buch zum Thema "Gaming und Bibliotheken":
http://tinyurl.com/gaming4bibs
Am 12. Februar 2016 um 12:12 schrieb Mumenthaler Rudolf
<Rudolf.Mumenthaler@xxxxxxxxxx
<javascript:_e(%7B%7D,'cvml','Rudolf.Mumenthaler@xxxxxxxxxx');>>:
Liebe Liste
Ich danke für die Aufmerksamkeit und vielen Rückmeldungen auf meine
erste Replik. Gerne nutze ich die Liste nochmals, um auf einen weiteren
Beitrag von mir zu verweisen, in dem ich einige Argumente zusammengefasst
habe. Er erklärt vielleicht, weshalb die sonst eher konsensorientierte und
ruhige Schweizer Bibliothekscommunity relativ heftig reagiert.
http://ruedimumenthaler.ch/2016/02/12/bibliotheksbranche-im-umbruch-und-in-aufruhr/
Freundliche Grüsse
Rudolf Mumenthaler
Rudolf Mumenthaler
HTW Chur, Schweizerisches Institut für Informationswissenschaft
Pulvermühlestrasse 57, CH-7004 Chur
Tel. +41 (0)81 286 37 19
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Christoph Deeg
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Das Buch zum Thema "Gaming und Bibliotheken": http://tinyurl.com/gaming4bibs
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.