Liebe Liste,Kollege Mummenthaler hat leider Recht: „Rafael Ball ... liefert keine konkreten Vorschläge.“ Es ist dagegen beunruhigend, dass man erst so viele provokante Halbwahrheiten in die Welt setzen muss, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
So ist es zwar richtig, dass “in der Geschichte der Menschheit ja unglaublich viel Mist geschrieben und publiziert” wurde. Und natürlich steht der “jetzt auch in den Bibliotheken”, damit er im Sinne K. Poppers falsifiziert, zumindest nicht wiederholt werden muss. (Man erinnert sich beispielsweise an die Diskussion über die kommentierte Ausgabe von Adolf Hitlers „Mein Kampf".) Das hat aber nichts damit zu tun, dass “80 Prozent der Literatur in den Speichern der Bibliotheken ... nie ausgeliehen” wird. Außerdem ist diese Behauptung falsch. Es ist zwar richtig, dass es die 80 : 20 Regel als Vereinfachung des Bradford`s Law of Scattering gibt, und dass Bibliotheken mit etwa 20 % ihres Bestandes 80 % der Anfragen abdecken können, aber das heißt natürlich nicht, dass die restlichen 80 % nie gebraucht würden. In der Pittsburgh Study (1979; s. dazu „Lehrbuch des Bibliotheksmanagements“ 2011. S. 139) wurde auch untersucht, dass in sieben Jahren in der Universitätsbibliothek Pittsburgh etwa die Hälfte des Freihandbestandes nie ausgeliehen wurde, das führte damals im anglo-amerikanischen Sprachraum zu einer heftigen Diskussion über die Erwerbungspolitik in Bibliotheken, während man im deutschsprachigen Raum davon kaum Kenntnis nahm. Das Ergebnis ist, dass viele Quellen in Bibliotheken in erster Linie dazu wichtig sind, zu erkennen, was man nicht zu lesen braucht, weil es bessere Quellen gibt. Das spart in der Wissenschaft die meiste Zeit und unschätzbar viel Geld.
Die Bibliothekare haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder ein Bibliothekssterben und auch ein Zeitschriftensterben (das es gar nicht gab, weil auf zwei neue Zeitschriften nur eine starb, und weil immer mehr elektronische Zeitschriften entstanden), beklagt, regen sich nun aber auf, wenn R. Ball Bibliotheken „in ihrer heutigen Form“ eine düstere Zukunft vorher sagt. Glaubt irgendjemand ernstlich, dass sich Bibliotheken ab morgen nicht mehr weiter modernisieren müssen.
Natürlich war und ist es ein Fehler, den Untergang des Bibliothekswesens zu beklagen, anstatt deutlich zu machen, welche Funktionen Bibliotheks- und Informationswissenschaftler übernehmen können und müssen. Da darf man sich doch nicht wundern, wenn z.B. die Informationswissenschaft in Düsseldorf und so manche Bibliothek, die ein veraltetes Bibliotheksmanagement betreibt, geschlossen wird. Die Tatsache, dass die meisten Bibliotheken heute mehr denn je genutzt werden, zeigt doch, dass wir bislang auf dem richtigen Weg der Modernisierung waren – und bleiben müssen. Vorausgesetzt, die Juristen enteignen die Bibliotheken im Digitalen Raum nicht weiter.
Wenn man das Interview von R. Ball und die Kommentare dazu liest, ist unverkennbar, dass wir in Deutschland zu wenig Bibliotheks- und Informationswissenschaftler haben. Die Vielzahl an Fehlern in dieser Diskussion aufzuzählen würde leider zu weit führen, aber dass Bibliotheken, ebenso wie das Internet, der publizierte „Wissensspeicher der Menschheit“ ist, steht doch außer Frage, wenn wir erkennen, dass Wissen begründete Information ist, und das weiß jeder, der ein Lehrbuch genauer studiert hat. Dass dieses Wissen von Menschen nachvollzogen und verstanden werden muss, ist eine völlig andere Frage. So wie es auch von Expertensystemen (Software) verstanden werden muss, wenn deren Inferenzmaschinen damit ihre Entscheidungen treffen sollen. Das geht übrigens schon lange nicht mehr auf Papier.
MfG Walther Umstätter Am 2016-02-09 08:45, schrieb Mumenthaler Rudolf:
Liebe Liste Hier noch der Link zu meiner Replik auf das NZZ-Interview mit Rafael Ball: http://ruedimumenthaler.ch/2016/02/08/sind-bibliotheken-uberflussig-eine-replik/ Freundliche Grüsse Rudolf Mumenthaler ----- Rudolf Mumenthaler HTW Chur Schweizerisches Institut für Informationswissenschaft Pulvermühlestr. 57, CH-7004 Chur Tel. +41 (0)81 286 37 19