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[InetBib] Weitere Rückmeldungen zum Beitrag "Bibliothekspädagogik reloaded", Beitrag vom 4.11.14
- Date: Fri, 19 Dec 2014 09:35:18 +0100
- From: Martin Spieler <Martin.Spieler@xxxxxxxx>
- Subject: [InetBib] Weitere Rückmeldungen zum Beitrag "Bibliothekspädagogik reloaded", Beitrag vom 4.11.14
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
auch wenn die Diskussion um das Thema schon abgeebbt ist, möchte ich Sie
noch an den folgenden Beiträgen teilhaben lassen, die nicht in eine der
beiden Listen forumoeb oder inetbib gepostet, sondern direkt an mich
gerichtet wurden. Das haben insgesamt 9 weitere Personen getan, darunter
auch die Leitung unserer Heimatbibliothek. Diese hat mir freundlich ihre
Gründe dargelegt und meine Tochter und mich zu einem Gespräch
eingeladen. Diese Einladung habe ich angenommen, allerdings ist es
mangels Zeit noch nicht zu diesem Gespräch bekommen.
Sechs von diesen neun Personen haben mir erlaubt, ihren Beitrag in
anonymisierter Form ins Forum zu stellen. [Eckige Klammern] zeigen
Stellen an, die ich zu diesem Zweck gelöscht habe. Ich finde diese
Beiträge zu interessant, um sie Ihnen vorzuenthalten, sie runden die
Diskussion um einige wichtige Aspekte ab. Zu weiteren Beiträgen sind
natürlich alle Foren-Leser herzlich eingeladen.
Wünsche Ihnen schöne und erholsame Feiertage
Martin Spieler
1.
Hallo Herr Spieler,
wir sind ebenfalls eine kleine Bibliothek ([...] EW) und arbeiten auch
mit altersabhängigen Ausleihbeschränkungen.
Dies hat zwei Gründe:
a) Für alle unter 18 ist die Nutzung der Stadtbücherei kostenfrei. Wir
möchten damit verhindern, dass Erwachsene über den Ausweis der Kinder
kostenfrei entleihen. Unsere Jahresgebühr ist [...] zwar äußerst gering,
aber selbst dann versuchen es die Leute noch. Traurig, aber wahr.
b) Da wir uns in einer kleinen, eher dörflichen Stadt befinden, ist es
vielen Nutzern tatsächlich wichtig, dass ihre Kinder nicht alles
entleihen können, selbst wenn sie allein zu uns kommen.
ABER: Will jemand etwas mitnehmen, was über der Altersfreigabe liegt,
bieten wir immer die Möglichkeit, nach Rücksprache mit den Eltern die
Altersfreigabe zu ändern [...]. In der Hauptsache bezieht sich die
Altersbeschränkung tatsächlich auf Romane, aber auch einige Sachgruppen
haben wir "gesperrt", vorausgesetzt, im Jugendsachbuchbestand findet
sich entsprechende Literatur.
Unsere Benutzungssatzung [...] kann in besonderen Fällen die Ausgabe
begrenzen [...]
Was ich definitiv bedenklich finde, ist, die Ausleihmöglichkeit von der
"individuellen Lesekompetenz" abhängig zu machen, bezeugt von
Mitarbeitern der Stadtbücherei. Das führt tatsächlich zu einer
Ungleichbehandlung.
Für uns hat sich dieses System bewährt, bei allen Nachteilen, die es
durchaus hat.
2.
Lieber Herr Spieler,
ich bin sprachlos. Eine solche Praxis ist mir in keiner Bibliothek, die
ich benutze und in der ich gearbeitet habe je untergekommen. Ich selbst
habe im Alter Ihrer Tochter gelesen, was ich in die Finger bekam und mit
spätestens 12 auch die Erwachsenenromanabteilung geplündert. Die
Stadtbibliothek in meiner Kleinstadt gehört nicht zu den
fortschrittlichsten, aber mich hat nie jemand daran gehindert. (das war
vor 15 Jahren und länger) Ich hätte mich wie Sie und Ihre Frau auch nur
schwer abhalten lassen mich zu beschweren.
In meiner wissenschaftlichen Bibliothek leihen oft Schüler aus. Wir
würden nur bei Medien, die explizit erst ab einem bestimmten Alter
freigegeben sind, die Ausleihe verweigern.
Ich finde Bibliothekare sollten nicht beurteilen, was jemand lesen
"darf" und was nicht. Von der Thekenbücherei mit ihrer erzieherischen
Mentalität sind wir Gott sei Dank längst entfernt dachte ich immer.
3.
Hallo Herr Spieler,
[...]
Sowohl in der Schulbibliothek als auch in der Ausleihe der Stadtbücherei
achte ich darauf, was Kinder entleihen. Weder bei C. Ahern noch beim
Hobbit hätte ich bei einer Zwölfjährigen aufgrund des Inhalts
eingegriffen*, bei Stephen King allerdings schon**. Ich denke auch
durchaus, dass die Auswahl der Lektüre von den individuellen Kompetenzen
abhängt, wobei ich weniger die Lesekompetenz als das Verständnis als
ausschlaggebenden Faktor betrachte. Das zu beurteilen steht mir aber
nicht zu, sondern ist Aufgabe der Eltern / Erziehungsberechtigten.
* Grundsätzlich ist eine Ausleihe von "Erwachsenenliteratur" auf
Kinderausweise bei uns nicht gern gesehen, da wir kostenlose
Kinderausweise für Bücher anbieten, Erwachsene aber eine
Benutzungsgebühr zahlen. Das "Verbot" gründet also eher darin, die
Umgehung der Benutzungsgebühren zu vermeiden, wobei das natürlich für
interessierte und erfahrene Lese-"Kinder" genauso unschön ist. Da sind
wir aber auch bereit, diese Regeln nach individueller Rücksprache
anzupassen, s.u.
** Beim "Herrn der Ringe" nicht, das regelt sich durch Umfang und Stil
von allein. Ich habe mich da selbst niemals ganz durchgekämpft, spreche
also aus Erfahrung.
Nach Möglichkeit würde ich immer versuchen, Rücksprache mit den Eltern
zu halten und dann ggf. die "Erweiterung" der ausleihbaren Medien im
Konto des Kindes vermerken. In der Schulbibliothek ist das normalerweise
auch problemlos umsetzbar (unter Umständen nicht sofort, aber
normalerweise zeitnah), in der Stadtbibliothek gestaltet sich das
allerdings als schwierig, wenn die Eltern nicht selbst Kunde sind oder
sich nicht unbedingt um die Ausleihgewohnheiten des Kindes kümmern (das
will ich nun niemandem unterstellen, aber das Kind darum zu bitten, dass
die Eltern sich bei der Bibliothek melden und diese Ausleihen
"verifizieren" führt nicht unbedingt immer zu einer befriedigenden
Lösung. Da dann individuell hinterher zu telefonieren ist in Zeiten von
Personalkürzung bei Aufgabenvermehrung aber auch nicht umsetzbar.).
Aus meiner eigenen Erfahrung als "Lese"-Kind kann ich Ihnen versichern,
dass es ziemlich ärgerlich ist, wenn einem die viel interessanteren und
ansprechenderen Medien aus dem Erwachsenenbereich "verboten" werden. Aus
der Erfahrung an der Verbuchungstheke kann ich Ihnen aber ebenso
versichern, dass nicht alle Kinder, die die Bibliothek nutzen, auch
wissen, was sie ausleihen bzw. einschätzen können, ob ein Titel für sie
geeignet ist.
Oder mal andersherum: wenn ich bzw. wir an der Verbuchungstheke allen
Kindern alles ausleihen würden, was diese in den Regalen finden, dann
stehen kurz darauf Eltern auf der Matte, die sich beschweren wollen,
dass wir ihren Kindern absolut ungeeignete Literatur ausgeliehen haben.
Ich halte das für einen typischen Fall von "Wie man es macht ist es
verkehrt". Wenn man davon ausgehen könnte, dass *alle *Eltern sich mit
den Medien, die ihre Kinder entleihen, befassen und ggf. eingreifen,
dann könnte man allen Kindern alles ausleihen. Von einem (wie ich meine,
überwiegenden) Teil der Eltern wird dieser Erziehungsauftrag der
Bibliothek zugewiesen.
Ich persönlich muss auch sagen, dass ich "Fifty Shades of Grey" ab 12
Jahren auszuleihen auch für ... entschuldigen Sie, ziemlich fragwürdig
halte. Ab 16 Jahren würde ich das angehen lassen, in dem Alter hat man
heute vermutlich auch schon den ersten Internetporno gesehen. Aber für
12jährige halte ich den Stoff dann doch für relativ ungeeignet. Ich
denke, mich hätten die "Informationen" in diesen Büchern mit 12 Jahren
doch noch ziemlich verstört. Aber letztlich ist auch das eine
Entscheidung, die die Eltern treffen sollten. Trotzdem würde ich dann,
bis die elterliche Bestätigung vorliegt, diesen und entsprechende Titel
zurückhalten.
Die Eignung eines Lesers können wir an der Verbuchungstheke nicht
beurteilen ... aber man kann normalerweise mit uns reden (dass es da
einzelne Ausnahmen gibt bestreite ich nicht). Erwachsene können diese
Entscheidung selbst treffen, für Kinder müssen das die Eltern tun, daher
müssen wir diese Entscheidungen an die Eltern zurückgeben.
Ich glaube, mein persönlicher Standpunkt zu dieser Frage wird
hinreichend klar, ansonsten dürfen Sie mir da gerne auch noch Feedback
aus Elternsicht geben. Für meinen Arbeitsort möchte ich an dieser Stelle
nicht sprechen, da ich die "Keine Erwachsenenmedien auf
Kinderkarten"-Regel auch gerne mal zu Gunsten eines mir bekannten
"Lese"-Kindes breche ;-)
Ich kann Ihnen und Ihrer Tochter nur den Rat geben, das Gespräch mit der
Bibliotheksleitung zu suchen und darum zu bitten, dass
"Erwachsenenmedien" für Ihre Tochter zur Ausleihe freigegeben werden. Es
ist natürlich nicht auszuschließen, dass es trotzdem weiterhin nicht
gestattet wird, aber unter dem Aspekt, dass es "eigentlich" verboten
ist, scheint da ja Spielraum zu sein. Wenn es in der Benutzungsordnung
nicht geregelt ist, dann sollte sich die Bibliotheksleitung der
elterlichen Bitte eigentlich nicht verschließen (wie oben bereits
angemerkt, Ausnahmen gibt es immer).
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, viele interessante Antworten auf Ihre
Frage und Ihrer Tochter weiterhin viel, viel Vergnügen beim Lesen und
Genießen von "verbotener" Literatur.
4.
Sehr geehrter Herr Spieler,
ich danke Ihnen für diese Schilderung, die mich sehr betroffen machte.
Ich hatte gedacht, dass solche Geschichten seit Jahrzehnten durch wären.
Ich habe das in den späten 70ern als Kind in einer Kleinstadt erlebt -
auch in etwa 20.000 Einwohner - erleben müssen und war damals bereits
empört. In den frühen 80ern als Jugendliche in Berlin-West gab es das
bereits nicht mehr bzw. ist es mir nicht begegnet, obwohl ich auch viel
aus dem sogenannten Erwachsenenbereich auslieh.
Und von den Hamburger Bücherhallen hörte ich mal in einem Vortrag, dass
deren Konzept, das auch schon diverse Jahrzehnte alt ist, darauf
beruhte, dass man diese Form des Eingriffs in Entleihen nicht mehr wollte.
Und in den Zeiten von Selbstverbuchern kenne ich das bei meinem
Teenagersohn in der Stadtbibliothek [...] auch nicht.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie viele qualifizierte Rückmeldungen bekommen
und dass Sie mit Ihrem Blick auf diesen Vorfall eine Änderung bewirken,
denn diese Schranken braucht niemand weder heute noch vor Jahrzehnten.
5.
Sehr geehrter Herr Spieler,
(Willkürliche) Altersbeschränkungen in der von Ihnen beschriebenen Weise
sind aus meiner Sicht tatsächlich unethisch (veraltet sowieso schon
längst), denn sie beruhen auf keiner nachvollziehbaren bzw. bestehenden
verbindlichen und möglichst objektiven RegelunG, sondern auf
Bevormundung und erhobenem Zeigefinger... Mal abgesehen von
individuellen Entwicklungsunterschieden, die vom
psychologisch-pädagogisch geschulten?! Bibliothekspersonal wohl kaum
wahrgenommen werden können,ist das aus meiner Sicht sogar Missbrauch der
Obhut von öffentlichen Beständen für Kinder und Jugendliche. Einzig ein
"FSK" im Filmbereich unterliegt einer klaren Regelung.
Die Alters"gerechte" Aufstellung von Beständen, in vielen ÖB's noch
praktiziert, soll lediglich einen empfehlenden, Charakter haben. Selbst
für Verlage sind Altersangaben meist nur eine Orientierungshilfe für die
(groß)elterliche Käufergruppe.
Wie schade, dass diese "Lese-barrieren", statt Leseförderung aus den
60ern noch immer lebendig gehalten werden.
... Und natürlich würde ich in der betreffenden Bibliothek zumindest
eine Anfrage starten, welcher rechtliche Rahmen für das
Ausleih-Teilverbot zugrunde liegt.
Hoffe, Ihnen ein wenig geholfen zu haben
6a.
Hallo Herr Spieler,
ich nehme ihre Email zum Anlass Ihnen meine [...] Sicht mitzuteilen. Wir
haben kein RFID und verbuchen selber. Bei uns dürfen Kinder auch
Erwachsenenbücher mitnehmen, wenn diese z. B. für die Schule benötigt
werden. Falls wir den Eindruck haben, das Kind/Jugendliche nimmt die
Bücher für einen Elternteil mit, dann geben wir die Bücher nicht mit.
Dazu kommt dann der Hinweis auf einen Erwachsenenausweis. Wir haben hier
auch ein Mädchen, die schon vieles liest, aber sie nimmt eben viele
Bücher aus dem Bereich mit. Aber ein Kind, das sonst Bibi Blocksberg
Bücher ausleiht und dazwischen liegt ein Historischer Roman würde diesen
nicht mitbekommen. Wenn die Mutter/Vater ausleihen möchte, dann müssen
sie einen eigenen Ausweis haben. Die Kinder und Jugendlichen zahlen bei
uns keine Jahresgebühr, Erwachsene [...] Euro. Da wollen einige eben die
Jahresgebühr sparen.
Unser Jugendbereich [...] wird mit Medien für das Alter 12-26 bestückt.
Also dort stehen schon auch Bücher für Ältere. Die dürften Kinder und
Jugendliche auch mitnehmen. Deshalb sehe ich da kein Problem.
Inhaltliche Empfehlungen/Beschränkungen habe ich bisher nur bei einer
Förderschule gemacht [...]. Der Junge (10) wollte Waffenbücher und
Horrorbücher aus dem Erwachsenenbereich ausleihen. Nach Hinweis an die
Lehrerin hat diese dann mit dem Jungen gesprochen und er hat etwas
anderes mitgenommen.
EDV-technisch haben wir bei Büchern keine Altersempfehlung hinterlegt,
nur die Kennung "Roman Erwachsene". Bei Filmen, Computer- und
Konsolenspiele gilt aber die USK/FSK, da wird das Medium nur an Kinder
in entsprechendem Alter ausgeliehen. Übrigens, auch die Titel "Shades of
grey..." können bei uns von Jugendlichen ausgeliehen werden. Wir haben
hier eine örtliche Autorin, die ähnliche "Liebesbücher" schreibt, da ist
das ebenso. Übrigens haben wir die Onleihe. Dort können auch Kinder und
Jugendliche digitale Bücher lesen und diese direkt mit gültigem
Leseausweis herunterladen. Da ist kein Bibliotheksmitarbeiter vor Ort
und zensiert. Da fällt mir ein, wäre das nicht eine Lösung für ihre
Tochter. Bietet ihre Bibliothek die Onleihe an? Vielleicht werden sie
Mitglied in einer dieser Bibliotheken?
Eine meine Vorgängerin hatte hier einen "Giftschrank", da hat sie nach
ihrem Ermessen Bücher eingestellt. Die Leser mussten dann bei ihr
persönlich nachfragen. Da sind wir heute nicht mehr. (Gott sei dank).
Ich hoffe ich habe deutlich gemacht, das bei uns nur der Fokus auf
"ausleihen für Eltern" steht. Viel Erfolg für ihre Rückmeldung.
Bestellen sie Ihrer Tochter einen schönen Gruß und vielleicht schauen
sie sich mal unsere Facebookseite an.
6b. (von der gleichen Person wie 6a., Folgebeitrag auf Grund einer
Antwort von mir)
Hallo,
ich bin [...] und seit [...] gibt es diesen "Giftschrank" nicht mehr.
Dazu ein recht gutes EDV System. Ich bin ganz ihrer Meinung, das die
Entscheidung was Kinder und Jugendliche Lesen bei den Eltern liegen. Ich
bin stolz sagen zu können, wir sind das eine recht "fortschrittliche
Bibliothek". Aber ich kenne eben auch andere Bibliotheken und vor allem
die Bibliothekare mit "alten Denkstrukturen". Da wende ich nicht mehr so
viel Energie hin, das ist für mich verschwendete Zeit. Wir versuchen
immer die Sichtweise der Leser zu haben und das ist manchmal doch
anders, als wir eigentlich dachten. Da gibt es doch immer wieder
Überraschungen. Inzwischen verstehen wir uns als "lernende" und als Team
gehen wir die Veränderungen der Zukunft gemeinsam an. Aber ich schweife ab.
Also viel Erfolg damit, ich würde mich freuen, mehr lesefreudige Kinder
(wie ihre Tochter) hier zu haben. Vielleicht sollte ihre Tochter der
Bibliothek anbieten eine Rezension über das Buch zu schreiben, dann
merken die doch, ob ihre Tochter den Inhalt reflektieren kann.
--
http://www.inetbib.de
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.