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[InetBib] "Bibliothekspädagogik reloaded"
- Date: Tue, 04 Nov 2014 09:43:25 +0100
- From: Martin Spieler <Martin.Spieler@xxxxxxxx>
- Subject: [InetBib] "Bibliothekspädagogik reloaded"
+++ Versand an Inetbib + Forumoeb - bitte entschuldigen Sie ggf. den
Doppelempfang +++
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich möchte Sie an Erlebnissen mit unserer örtlichen Bibliothek (Stadt
mit über 20.000 EW und hauptamtl. Bibl.-Personal) teilhaben lassen, die
sich in den vergangenen 2 Jahren in Varianten immer wieder ereignet hat.
Die jüngste Episode "lief" gestern und hat mich veranlasst, sie in
verkürzter Form ins bibl. Forum zu stellen:
Unsere Tochter Christine, (14 J.), die seit je her gerne liest,
entwickelt seit ihrem 10. Lebensjahr einen kaum stillbaren Bücherhunger
und verschlingt seitdem Romane in atemberaubendem Tempo und Menge. Mit
ca. 11 J. entwickelte sich ihr Interesse an einzelnen Romanen aus dem
Erwachsenen-Bereich, nachdem sie Harry Potter, Twilight u.a. mehrmals
rauf- und runter gelesen hatte. Mit 12 las Sie begeistert "P.S., ich
liebe dich!" von C. Ahern und wollte aus unserer örtlichen Bibliothek
das zweite Buch der Autorin, "Für immer villeicht" entleihen. Die
Antwort an der Verbuchungstheke: "Das können wir dir nicht mitgeben".
Zunächst dachte sie, es gäbe eine generelle Altersgrenze zur Nutzung der
Medien aus dem Erwachsenen-Bereich, aber auch die Benutzungsordnung
lieferte keinen Hinweis auf eine solche Regel. Auf Nachfragen unserer
Tochter stellte sich heraus, dass man ihr das Buch nicht geben wolle,
weil "das noch nichts für sie sei", "dafür bist du noch zu jung". Unsere
Tochter wollte nicht, dass wir zu ihren Gunsten eingriffen oder mit dem
Bibliothekspersonal sprächen ("wie peinlich!"), sondern ließ den Fall
auf sich beruhen.
Im Alter von 12 J. und 8 Monaten (sie hat es festgehalten!) wollte sie
Tolkiens "Hobbit" entleihen. Systematik: "SL , 5.2 Jugendbuch 13 - 16
J." IK "Fantasy", Standort "Romanbereich Erdgeschoss". An der
Verbuchungstheke erfährt sie wieder die verbale Ausleihverweigerung.
Glücklicherweise ist die Leiterin gerade in der Nähe, Christine fragt
"Wieso denn?" und die Leiterin sagt (in etwa) zur verbuchenden Kollegin
"Christine darf das ruhig mitnemen, die liest so viel und ist so fit,
das ist kein Problem - aber den "Herr der Ringe" würden wir dir nicht
mitgeben." Nun ist Christine nicht etwa erleichtert sondern empört sich
zu Hause darüber, dass die Ausleihe also scheinbar von der
"individuellen Lesekompetenz" abhängig sei, eine andere/r Leser/in das
Buch also nicht unbedingt bekommen hätte. Wir wollen als Eltern wieder
intervenieren, was uns unsere Tochter mit dem Hinweis "verbietet", die
Leiterin gehe ohnehin bald in den Ruhestand, und danach würde sich das
Problem vermutlich bald erledigen, denn sie wolle dann die neue Leitung
darauf ansprechen (sie ist guter Dinge, denn ihre Eltern, beide
Bibliothekare, bestätigen ihr, dass solche Vorfälle in deutschen ÖBs zu
den Ausnahmen gehören (sollten)).
Mit 14 J. - die alte Leiterin ist noch im Amt - versucht sie erfolglos ,
einen Roman von Stephen King zu entleihen. Unseren Ratschlag, das
"Verweigerungsspektrum" auszuloten, indem sie versuchen solle Henry
Miller, Bukowski, Remarque u.A (viel "Harmlosere") auszuleihen, lehnt
sie dankend ab. Uns Eltern fällt es schwer, NICHT vorstellig zu werden,
aber zähneknirschend wollen wir die Zeit abwarten, dass es in diesem
Punkt mit einer neuen Leitung besser wird.
Die neue Leitung ist seit Frühsommer diesen Jahres im Amt. Christine
versucht es erneut mit dem Roman von King - ohne Erfolg. Sie möchte den
Leiter sprechen, der aber leider nicht im Haus ist. Gestern, am 3.11.,
holt sie dieses Gespräch nach. Christine gibt uns dieses Gespräch
inhaltlich wie folgt wider: Der neue Leiter habe ihr erklärt, dass
Medien aus dem Erwachsenen-Bereich "eigentlich" erst ab 16. J. zu
entleihen wären. [Das ist definitiv nicht der Fall, weil unsere älteste
Tochter, Christines Schwester, bereits mehrfach Erw.-Medien im Alter von
13 Jahren und aufwärts entliehen hatte, für Referate, aber auch
"privat", z.B. Zeitschriften aus dem Wohn- und Modebereich,
Kunstbücher). Auch die Benutzungsordnung enthält keinen solchen
Hinweis.] Zudem erklärt er ihr, dass die Bibliothek schließlich auch
eine Verantwortung dafür trage, was die Kinder/Heranwachsenden lesen
würden. Da sei es auch von Vorteil, dass mein keine Selbstverbucher habe
und somit noch individuell schauen und regeln könne, welches Kind was
entleihen wolle und dürfe.
Bevor meine Frau und ich nun weitere Schritte ergreifen (denn NUN lassen
wir uns nicht mehr von unserer Tochter aufhalten), möchte ich gerne Ihre
Meinung dazu hören: Wie beurteilen Sie den unten beschriebenen Fall?
Sind Ihnen ähnliche Ereignisse jüngeren Datums bekannt? Handhaben Sie
bzw. Ihre Bibliothek möglicherweise solche Fälle ähnlich? (Wer sich
nicht traut, die letzte Frage öffentlich zu bejahen, kann mir gerne
direkt antworten und ich verspreche Stillschweigen, es geht mir nicht um
das Anprangern Einzelner, sondern um ein Gesamtbild). Auch die
Beurteilung durch die bibliothekarischen Vereine/Verbände würde mich
interessieren: Gibt es eine einheitliche, bibliothekspolitische und
-ethische Antwort darauf (was ich sehr hoffe)?
An die WB-Kollegen: In etlichen WBs ist die Nutzung auch unter 18 J.
erlaubt, sind Ihnen Fälle bekannt, in denen solche NutzerInnen von der
Lektüre/Ausleihe bestimmter Medien ausgeschlossen sind (abgesehen von
indizierten Werken)?
Vielen Dank für alle Reaktionen und besten Gruß
Martin Spieler
PS: Meine Frau steuert gerne folgende Episode bei um zu verdeutlichen,
dass es sich - in seiner grundsätzlichen Art - nicht um einen Einzelfall
zu handeln braucht, auch wenn er weitaus weniger drastisch ist. An Ihrem
Arbeitsort, einer hauptamtlich geführten ÖB in einem Ort mit über 40.000
Ew., hatte man das Buch "Fifty Shades of Grey" mit einer Alterssperre
von 18 J. versehen. Auf ihren Einwand hin und nachdem etliche 16-jährige
Leserinnen enttäuscht zurückgewiesen worden waren, hat das Buch seit
vergangene Woche eine "Altersfreigabe" (gesteuert über eine
Mediengruppe) ab 12 Jahre.
--
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