Am 26.06.2014 11:37, schrieb peter.jobmann@xxxxxxxxxxx:
ein Problem der Weiterentwicklung Öffentlicher Bibliotheken ist die
immer wieder auftauchende Wertung "wirklich moderne Bibliotheken", die
ja immer auch ihren Gegenpart impliziert. Moderne bibliothekarische
Arbeit ist aber doch jene, die sich an den Bedürfnissen und Bedarfen
ihrer Umgebung ausrichtet. An manchen Orten mögen das "Connected Life
Long Learning Labs" sein, anderso nicht. Wir könnten uns aber die
Wertung, die sich immer wieder nur an technischen Trends ausrichtet,
einfach sparen.
Ich war gerade mal wieder Radfahren für und vor allem zu Bibliotheken
("Cycling for Libraries"). Diesmal sind 4 Gruppen aus Minsk,
Kaliningrad, Plunge (Litauen) and Preili (Lettland) gestartet und
haben sich nach mehreren Tagen in Kaunas (Litauen) zu einer
Abschlusskonferenz getroffen. Auf dem Weg dahin wurden vor allem
öffentliche Bibliotheken entlang der Routen besucht.
Ich bin ab Minsk geradelt und habe so vor allem kleinere Bibliotheken
"auf dem Land" in Weißrussland und Litauen kennen gelernt. Eine
eindrucksvolle Reise.
Kaum überraschend, ging es dabei auch um die Zukunft von öffentlichen
Bibliotheken und dem Finden/Suchen ihrer Rolle und Aufgabe in der
Gesellschaft.
Es wird kaum überraschen, dass Bibliotheken in Litauen und
Weißrussland sich mittlerweile sehr unterschiedlich entwickelt haben.
Zwei Fotos:
https://www.flickr.com/photos/tillk/14488205272/in/pool-cyc4lib/
https://www.flickr.com/photos/tillk/14466325966/in/pool-cyc4lib/
Sie können ja mal raten, welches in welchem Land aufgenommen wurde...
Aber (und deswegen in diesem Kontext diese Mail), was sehr interessant
war: In beiden Ländern haben sich alle besuchten öffentlichen
Bibliotheken nicht (aussschließlich) als "Büchereien" verstanden, auch
nicht als Wegbereiter (oder wahlweise Hinterher-Hetzer) des
(abstrakten) technischen Fortschritts
(https://www.flickr.com/photos/tillk/14466345996/in/pool-cyc4lib),
sondern eben als Teil der lokalen oder regionalen Umgebung. Was sich
darin äußert, dass sie sich vor allem kulturelle und
zivilgesellschaftliche Aufgaben wahrnehmen: Tanzen, Singen, Handwerken
(vor allem in Weißrussland), Yoga, Müll sammeln... All das findet in
der Bibliothek statt bzw. wird von ihr organisiert. Nicht passiv (zum
Beispiel als Ausstellung von handgearbeiteten Stoffen in
Weißrussland), sondern aktiv (zum Beispiel durch das Bereitstellen von
Webrahmen oder Musikinstrumenten:
https://www.flickr.com/photos/tillk/14488193892/in/pool-cyc4lib/ ).
Diese Erfahrungen (und die eigenen Projekte der anderen Radfahrenden,
die aus mehreren europäischen Ländern stammten) beeinflussten
wesentlich unsere Diskussionen bei der Konferenz am Ende der Reise:
Ich machte dort eine Art Konsens aus, dass öffentliche Bibliotheken
vor allem im kulturellen Bereich, jedenfalls aber weit über
"Literatur" hinaus, ihren Platz haben oder haben sollen/werden.
Darüber hinaus wurden Bibliotheken als Orte von allem gesehen, was man
im weitesten Sinne als "zivilgesellschaftliches Engagement" bezeichnen
könnte. Also zum Beispiel Umweltschutz oder auch Fahrradreparatur...
Wir hatten in der Tat Beispiele dafür gesehen unterwegs.
Ich stellte daraufhin die (provokative) Frage in den Raum, ob wir
damit nicht die Bibliothek "verwässern" oder gar "überfordern", auch
als eigentlich recht klar definierte und etablierte "Marke". Ich
erklärte dann auch ein wenig die Situation in Deutschland, wo wir für
kulturelle, sportliche, bildungsorientierte, politische oder
zivilgesellschaftliche Aktivitäten spezialisierte, etablierte
Einrichtungen, Träger und auch Räume haben, die relativ einfach und
allgemein zugänglich sind (Volkshochschulen, Vereine, öffentliche
Sporthallen, ...). So dass es öffentlichen Bibliotheken teilweise auch
gar nicht möglich ist, zum Beispiel mehr Aufgaben im Bildungsbereich
zu übernehmen, auch wenn sie das wollen.
Ich bekam nicht wirklich eine Antwort auf meinen Einwand in Kaunas,
vermutlich auch, weil Deutschland eine sehr differenziert entwickelte
"Zivilgesellschaft" und immer noch relativ viele öffentliche Räume
hat, was so nicht überall in Europa gegeben ist.
Aber vielleicht ist auch genau diese Situation in Deutschland ein
Stolperstein für die Entwicklung von öffentlichen Bibliotheken, der
dazu führt, dass in Bibliotheksgesetzen ihre Aufgaben vor allem
"buch/lesebezogen" definiert werden?
Noch ein Gedanke: Letztes Jahr radelten wir durch die Niederlande und
Belgien und besuchten da einige neu gebaute bzw. im Bau befindliche
Bibliotheken. Dort fiel auf, dass stets betont wurde, dass die
Architektur der neuen Gebäude einen Wandel der Aufgaben von
Bibliotheken in der Zukunft berücksichtigt. Ein stabiles Gebäude, das
schwere Bücherregale tragen kann, war also bei den Konzepten nicht
mehr die primäre Anforderung (auch wenn man vorerst überall noch
Bücherregale prominent platziert hat)...
Das sind nur meine nicht-fachmännischen Beobachtungen und Gedanken,
die mir so beim Radfahren durch den Kopf gehen.
Falls Sie mehr von unserer Radreise durch das Baltikum sehen möchten,
können Sie auf https://www.facebook.com/events/433696566736171/
fortlaufend neue Fotos, Videos und Eindrücke verfolgen (sie werden
dort allerdings vor allem Bilder finden von Menschen in grellgelben
und -orangen Westen in und vor Bibliotheken, auf Fahrrädern und beim
Essen und Trinken sehen; eine "fachliche" Aufarbeitung des Ganzen
steht noch aus ;-)
Viele Grüße,
Till Kinstler