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[InetBib] Wissenschaft+digitale Publikation (war: Alternde Tuersteher der Wissenschaft)
- Date: Fri, 26 Apr 2013 19:44:19 +0200
- From: Prof. Dr. Rudi Schmiede <schmiede@xxxxxxxxxxxxxxxxxxx>
- Subject: [InetBib] Wissenschaft+digitale Publikation (war: Alternde Tuersteher der Wissenschaft)
(Ich habe diese Mail schon am 30.03.13 geschrieben, sie ist jedoch aus einem
nicht rekonstruierbaren Grund auf dem list server untergegangen, deswegen jetzt
noch einmal einer neuer Versuch; RS)
Lieber Herr Umstaetter,
liebe Liste,
der letzte Abschnitt Ihrer Mail ist mir Anlass, etwas in die Geschichte zurueck
zu blicken und daraus fuer die Situation in Deutschland zu folgern.
In Deutschland gab es, wenige Jahre nach Beginn der US-amerikanischen DLI 1,
einen aehnlich ambitioesen Versuch der Foerderung und Weiterentwicklung
digitaler Bibliotheken insbesondere im Bereich der wiss. Fachinformation,
initiiert von der damaligen IuK-Initiative wiss. Fachgesellschaften, mit dem
Namen GLOBAL INFO (1997 bis ca. 2002). Da ich das insgesamt positive,
gleichwohl mehrfach getruebte Glueck hatte, Chairman dieses Foerderschwerpunkts
des bmbf zu sein, ist mir die Dynamik und auch die Geschichte des Scheiterns
dieser Aktivitaet wohl vertraut (Herr Hilf wird sich ebenfalls im Detail
erinnern).
Das damalige Alleinstellungsmerkmal dieses Ansatzes, der auch erhebliche
internationale Aufmerksamkeit auf sich zog, war, dass in dem Steuerungsgremium
Vertreter aller wesentlichen player (wiss. Fachgesellschaften, wiss.
Bibliotheken, Fachinformations- und Dokumentationszentren, Rechenzentren,
Wissenschaftsverlage, DFG, bmbf) um einen Tisch sassen. Allerdings erwiesen
sich nicht nur die Interessen, sondern auch die Voraussetzungen dieses Kreises
bald als sehr unterschiedlich. Die wiss. Verlage entwickelten parallel ihre
eigenen Plattformen und nutzten den Kreis in abgestufter Weise (am staerksten
ausgepraegt bei Elsevier, damals vertreten durch Hans Roosendaal) als Weg zur
Sondierung der Abnehmermaerkte und zur Verhinderung einer Konkurrenz dazu. Auch
die Fachinformationszentren vertraten ausgepraegt eigene Interessen. Mindestens
genauso scheiterte das Vorhaben jedoch an der Bewusstseinslage in den wiss.
Fachgesellschaften, in denen - und ich befuerchte, weitgehend bis heute - das
Verstaendnis, dass diese neue Publikations- und Kooperationswelt fuer sie eine
wesentliche Neuerung ist, fehlte; die Aktivisten in der DL-Welt blieben in
dieser Hinsicht im grossen und ganzen Randfiguren in ihren jeweiligen
Disziplinen (und das gilt selbst fuer so engagierte Aktivisten wie Eberhard
Hilf in der Physik oder hervorragende Wissenschaftler und praktisch Engagierte
wie Martin Groetschel in der Mathematik); entsprechend bescheiden waren die
F+E-Projektantraege aus der Wissenschaft im Rahmen dieser Schwerpunktaktion.
Dazu kam Kontingentes wie das An-die-Wand-Fahren des zustaendigen Referats im
bmbf durch Personalwechsel. Als wesentliche Wirkung des Schwerpunkts ist die -
im Kern durch zentrale Bibliotheken getragene - Langzeitarchivierung digitaler
Bestaende, gebuendelt bei nestor, geblieben - immerhin...
Was folgt(e) daraus in Deutschland?
1. Es gibt keine Institution, kein Gremium, geschweige denn eine ministerielle
Einheit, in der strategische Fragen der Entwicklung, der Verteilung, des
Zugangs, der oekonomischen Modelle zum Umgang mit wiss. Information diskutiert,
verhandelt oder entschieden wuerden. Die Situation in Deutschland ist - trotz
begruessenswerter spezieller Aktivitaeten etwa im Bereich der
Langzeitarchivierung, der Digital Humanities oder der Big Data processes -
durch institutionalisierte Schlafmuetzigkeit bei fast allen Beteiligten
gepraegt. Hier waere eine zentrale politische Initiative nicht nur
wuenschenswert, sondern ueberfaellig.
2. Im Gegensatz zu den anglo-saechsischen Wissenschaftskulturen existiert in
Deutschland nur eine rudimentaere Informationswissenschaft; letztere ist bis
heute hier im Wesentlichen Teilbereich der Bibliothekswissenschaft geblieben,
waehrend sie in den USA laengst an (quantitativer - und viel sagen
qualitativer) Bedeutung ueber die computer science (bei uns Informatik) hinaus
gewachsen ist. Informationswissenschaftliche Problematiken und Forschungen sind
in Deutschland notorisch unterrepraesentiert.
3. Der Einbezug der Wissenschaftler und Studierenden in die Welten der
digitalen Fachinformation ist weiterhin mangelhaft - man kann auch sagen: Wir
sind als Wissenschaftler, ob Forschende, Lehrende oder Verwaltende, hinter der
Realitaet zurueck; Fachkulturen, aber auch Studiengaenge, die ihren Mitgliedern
den Umgang mit den dramatisch erweiterten Informationswelten der traditionellen
(bibliotheks- und archivgebundenen) und der digitalen Quellen lehrend
zugaenglich machen, muss man mit der Lupe suchen. Das hat ganz offensichtlich
damit zu tun, dass gerade unter forschungs- und lehrorientierten
Wissenschaftlern der Blick darauf, dass die wiss. Informationsangebote
schliesslich einen Kernbestandteil der eigenen Arbeitsumgebung bilden, noch
kaum entwickelt ist.
4. Das geht bis in die entsprechenden Technologien: Wiss. Suchmaschinen, die
zugleich die Bequemlichkeit und Eleganz von google und die Genauigkeit
traditioneller bibliographischer Angaben vereinen, fehlen bislang; die
Informationsrecherche ist auch technisch weiterhin eine gespaltene. Das gilt
auch fuer die Angebotsseite: Alle repository-orientierten Nachweise sind von
der Extra-Zuarbeit der beteiligten Wissenschaftler abhaengig. Verfahren, deren
Nachweise dort abzuholen, wo sie sich befinden (i.d.R. ihre webpages), sind
kaum entwickelt.
5. Dazu traegt sicherlich bei, dass bislang nur sehr wenig zwischen den (extrem
unterschiedlichen) Fachkulturen unterschieden wird. Debatten ueber digit.
Publikationen, OA, oekon. Modell etc. werden i.d.R. pauschal gefuehrt.
Tatsaechlich unterscheiden sich die Fachkulturen incl. ihrer Publikationsweisen
gravierend: Tradit. Geisteswissenschaften publizieren vor allem ueber
Monographien, die Sozialwissenschaften ueber Sammelbaende, die Informatiker
ueber Konferenzbeitraege, die kanonisch organisierten sciences ueber ratings
von internationalen Zeitschriften, zentrale Bereiche der Physik ueber ArXiv
etc. Entsprechend sind die fachkultur-spezifischen Verlagslandschaften.
Fachkultur-bezogene Analysen waeren hier dringend notwendig zur Versachlichung
der Digitalisierungsdebatten.
6. Aufgrund dieser Heterogenitaet bilden sich in den Debatten ueber
oekonomische Modelle der gedruckten und der digitalen Publikation teilweise
unsinnige Kontroversen heraus; ein Gutteil von ihnen ist der Verwurzelung in
unterschiedlichen Publikationskulturen geschuldet. Faktisch haben wir es hier
mit einem breiten Experimentierfeld unterschiedlicher Kombinationen von
gedruckter und digitaler Publikation, von kostenpflichtigem und OA-Zugang zu
tun, das je nach Fachkultur ganz unterschiedlich aussieht. Auch hier fehlt
jedoch weitgehend die wissenschaftliche und sachliche Fundierung.
Soweit eine kurze bilanziernde Uebersicht der gegenwaertigen Probleme in
Deutschland aus meiner Sicht. Sorry, dass meine Mail so lang geworden ist -
strategische Sichtweisen beduerfen oft der ausfuehrlicheren Begruendung.
Viele Gruesse,
Rudi Schmiede
_________________________________________________________________________________________
Prof. Dr. Rudi Schmiede
Inst. f. Soziologie / Dpt. of Sociology
Techn. Univ. Darmstadt / Darmstadt University of Technology
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Tel. +49 6151 16-2809 Fax +49 6151 16-6042
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Original message
From: h0228kdm <h0228kdm@xxxxxxxxxxxxxxxx>
To: inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx;
Dated: 29.03.2013 21:26:58
Subject: Re:_[InetBib]_Alternde_Türsteher_der_Wissenschaft
Warum sollte der Staat seine eTextBooks nicht selbst sponsern, wenn er
über die Schulpflicht doch selbst der Abnehmer ist und die Vorgaben
festlegt?
Wie man liest, testen nicht nur die USA den Einsatz von Slates
(elektronischen Schiefertafeln ? Tablet Computern) in Schulen, sondern
auch die deutschen Schulbuchverlage. Allerdings mit der Vorgabe, dass
die gedruckten Schulbücher erhalten bleiben.
Das erinnert mich an die TIB Hannover, die etwa 1990 den Auftrag bekam
zu prüfen, wie weit die Digitalisierung ihrer Bestände dazu führen
könnte, weniger Speicherbibliotheksraum zu benötigen.
?Im Prinzip war es schon damals überschlagsmäßig leicht errechenbar,
dass digital verfügbare Bestände etwa um den Faktor hundert preiswerter
waren als gedruckte. Trotzdem musste ich mir nach diesem TIB-Projekt
wiederholt anhören, dass ein DFG-Projekt wissenschaftlich nachgewiesen
hätte, dass sich die Digitalisierung nicht lohnt. Der Grund war einfach,
da man den Kosten der Digitalisierung nur die des architektonischen
Platzgewinns gegenübergestellt hatte, und die Digitalisierung war damals
noch um ein Vielfaches teurer als heute.
In den USA hat man damals ähnliche Fragestellungen untersucht, mit dem
Unterschied, dass man zu einer entgegengesetzten Erkenntnis gelangte.
Digitale Dokumente hatten nicht nur den Vorteil, dass sie Platz in
Speicherbibliotheken sparten, sie konnten auch ohne dass das Personal
sie aus den Regalen holen musste, weltweit, mit annähernder
Lichtgeschwindigkeit, verfügbar gemacht werden.? (Zwischen
Informationsflut und Wissenswachstum S. 273 2009)
Und dann wundert man sich über den Vorsprung der USA. Es war die Zeit,
in der die USA das Digital Library Project förderten, aus dem dann
Google hervorging.
MfG
Walther Umstätter
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