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[InetBib] Wissenschaft+digitale Publikation (war: Alternde Tuersteher der Wissenschaft)



(Ich habe diese Mail schon am 30.03.13 geschrieben, sie ist jedoch aus einem 
nicht rekonstruierbaren Grund auf dem list server untergegangen, deswegen jetzt 
noch einmal einer neuer Versuch; RS)



Lieber Herr Umstaetter,
liebe Liste,

der letzte Abschnitt Ihrer Mail ist mir Anlass, etwas in die Geschichte zurueck 
zu blicken und daraus fuer die Situation in Deutschland zu folgern.

In Deutschland gab es, wenige Jahre nach Beginn der US-amerikanischen DLI 1, 
einen aehnlich ambitioesen Versuch der Foerderung und Weiterentwicklung 
digitaler Bibliotheken insbesondere im Bereich der wiss. Fachinformation, 
initiiert von der damaligen IuK-Initiative wiss. Fachgesellschaften, mit dem 
Namen GLOBAL INFO (1997 bis ca. 2002). Da ich das insgesamt positive, 
gleichwohl mehrfach getruebte Glueck hatte, Chairman dieses Foerderschwerpunkts 
des bmbf zu sein, ist mir die Dynamik und auch die Geschichte des Scheiterns 
dieser Aktivitaet wohl vertraut (Herr Hilf wird sich ebenfalls im Detail 
erinnern).

Das damalige Alleinstellungsmerkmal dieses Ansatzes, der auch erhebliche 
internationale Aufmerksamkeit auf sich zog, war, dass in dem Steuerungsgremium 
Vertreter aller wesentlichen player (wiss. Fachgesellschaften, wiss. 
Bibliotheken, Fachinformations- und Dokumentationszentren, Rechenzentren, 
Wissenschaftsverlage, DFG, bmbf) um einen Tisch sassen. Allerdings erwiesen 
sich nicht nur die Interessen, sondern auch die Voraussetzungen dieses Kreises 
bald als sehr unterschiedlich. Die wiss. Verlage entwickelten parallel ihre 
eigenen Plattformen und nutzten den Kreis in abgestufter Weise (am staerksten 
ausgepraegt bei Elsevier, damals vertreten durch Hans Roosendaal) als Weg zur 
Sondierung der Abnehmermaerkte und zur Verhinderung einer Konkurrenz dazu. Auch 
die Fachinformationszentren vertraten ausgepraegt eigene Interessen. Mindestens 
genauso scheiterte das Vorhaben jedoch an der Bewusstseinslage in den wiss. 
Fachgesellschaften, in denen - und ich befuerchte, weitgehend bis heute - das 
Verstaendnis, dass diese neue Publikations- und Kooperationswelt fuer sie eine 
wesentliche Neuerung ist, fehlte; die Aktivisten in der DL-Welt blieben in 
dieser Hinsicht im grossen und ganzen Randfiguren in ihren jeweiligen 
Disziplinen (und das gilt selbst fuer so engagierte Aktivisten wie Eberhard 
Hilf in der Physik oder hervorragende Wissenschaftler und praktisch Engagierte 
wie Martin Groetschel in der Mathematik); entsprechend bescheiden waren die 
F+E-Projektantraege aus der Wissenschaft im Rahmen dieser Schwerpunktaktion. 
Dazu kam Kontingentes wie das An-die-Wand-Fahren des zustaendigen Referats im 
bmbf durch Personalwechsel. Als wesentliche Wirkung des Schwerpunkts ist die - 
im Kern durch zentrale Bibliotheken getragene - Langzeitarchivierung digitaler 
Bestaende, gebuendelt bei nestor, geblieben - immerhin...

Was folgt(e) daraus in Deutschland?

1. Es gibt keine Institution, kein Gremium, geschweige denn eine ministerielle 
Einheit, in der strategische Fragen der Entwicklung, der Verteilung, des 
Zugangs, der oekonomischen Modelle zum Umgang mit wiss. Information diskutiert, 
verhandelt oder entschieden wuerden. Die Situation in Deutschland ist - trotz 
begruessenswerter spezieller Aktivitaeten etwa im Bereich der 
Langzeitarchivierung, der Digital Humanities oder der Big Data processes - 
durch institutionalisierte Schlafmuetzigkeit bei fast allen Beteiligten 
gepraegt. Hier waere eine zentrale politische Initiative nicht nur 
wuenschenswert, sondern ueberfaellig.

2. Im Gegensatz zu den anglo-saechsischen Wissenschaftskulturen existiert in 
Deutschland nur eine rudimentaere Informationswissenschaft; letztere ist bis 
heute hier im Wesentlichen Teilbereich der Bibliothekswissenschaft geblieben, 
waehrend sie in den USA laengst an (quantitativer - und viel sagen 
qualitativer) Bedeutung ueber die computer science (bei uns Informatik) hinaus 
gewachsen ist. Informationswissenschaftliche Problematiken und Forschungen sind 
in Deutschland notorisch unterrepraesentiert.

3. Der Einbezug der Wissenschaftler und Studierenden in die Welten der 
digitalen Fachinformation ist weiterhin mangelhaft - man kann auch sagen: Wir 
sind als Wissenschaftler, ob Forschende, Lehrende oder Verwaltende, hinter der 
Realitaet zurueck; Fachkulturen, aber auch Studiengaenge, die ihren Mitgliedern 
den Umgang mit den dramatisch erweiterten Informationswelten der traditionellen 
(bibliotheks- und archivgebundenen) und der digitalen Quellen lehrend 
zugaenglich machen, muss man mit der Lupe suchen. Das hat ganz offensichtlich 
damit zu tun, dass gerade unter forschungs- und lehrorientierten 
Wissenschaftlern der Blick darauf, dass die wiss. Informationsangebote 
schliesslich einen Kernbestandteil der eigenen Arbeitsumgebung bilden, noch 
kaum entwickelt ist.

4. Das geht bis in die entsprechenden Technologien: Wiss. Suchmaschinen, die 
zugleich die Bequemlichkeit und Eleganz von google und die Genauigkeit 
traditioneller bibliographischer Angaben vereinen, fehlen bislang; die 
Informationsrecherche ist auch technisch weiterhin eine gespaltene. Das gilt 
auch fuer die Angebotsseite: Alle repository-orientierten Nachweise sind von 
der Extra-Zuarbeit der beteiligten Wissenschaftler abhaengig. Verfahren, deren 
Nachweise dort abzuholen, wo sie sich befinden (i.d.R. ihre webpages), sind 
kaum entwickelt.

5. Dazu traegt sicherlich bei, dass bislang nur sehr wenig zwischen den (extrem 
unterschiedlichen) Fachkulturen unterschieden wird. Debatten ueber digit. 
Publikationen, OA, oekon. Modell etc. werden i.d.R. pauschal gefuehrt. 
Tatsaechlich unterscheiden sich die Fachkulturen incl. ihrer Publikationsweisen 
gravierend: Tradit. Geisteswissenschaften publizieren vor allem ueber 
Monographien, die Sozialwissenschaften ueber Sammelbaende, die Informatiker 
ueber Konferenzbeitraege, die kanonisch organisierten sciences ueber ratings 
von internationalen Zeitschriften, zentrale Bereiche der Physik ueber ArXiv 
etc. Entsprechend sind die fachkultur-spezifischen Verlagslandschaften. 
Fachkultur-bezogene Analysen waeren hier dringend notwendig zur Versachlichung 
der Digitalisierungsdebatten.

6. Aufgrund dieser Heterogenitaet bilden sich in den Debatten ueber 
oekonomische Modelle der gedruckten und der digitalen Publikation teilweise 
unsinnige Kontroversen heraus; ein Gutteil von ihnen ist der Verwurzelung in 
unterschiedlichen Publikationskulturen geschuldet. Faktisch haben wir es hier 
mit einem breiten Experimentierfeld unterschiedlicher Kombinationen von 
gedruckter und digitaler Publikation, von kostenpflichtigem und OA-Zugang zu 
tun, das je nach Fachkultur ganz unterschiedlich aussieht. Auch hier fehlt 
jedoch weitgehend die wissenschaftliche und sachliche Fundierung.

Soweit eine kurze bilanziernde Uebersicht der gegenwaertigen Probleme in 
Deutschland aus meiner Sicht. Sorry, dass meine Mail so lang geworden ist - 
strategische Sichtweisen beduerfen oft der ausfuehrlicheren Begruendung.

Viele Gruesse,
Rudi Schmiede
_________________________________________________________________________________________
 

Prof. Dr. Rudi Schmiede 
Inst. f. Soziologie / Dpt. of Sociology 
Techn. Univ. Darmstadt / Darmstadt University of Technology 
Residenzschloss, Marktplatz 15, D-64283 Darmstadt 
Tel. +49 6151 16-2809 Fax +49 6151 16-6042 
http://www.ifs.tu-darmstadt.de/index.php?id=schmiede_00
http://person.yasni.de/rudi+schmiede+161003
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Original message
From: h0228kdm <h0228kdm@xxxxxxxxxxxxxxxx>
To: inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx; 
Dated: 29.03.2013 21:26:58
Subject: Re:_[InetBib]_Alternde_Türsteher_der_Wissenschaft

Warum sollte der Staat seine eTextBooks nicht selbst sponsern, wenn er
über die Schulpflicht doch selbst der Abnehmer ist und die Vorgaben 
festlegt?

Wie man liest, testen nicht nur die USA den Einsatz von Slates 
(elektronischen Schiefertafeln ? Tablet Computern) in Schulen, sondern 
auch die deutschen Schulbuchverlage. Allerdings mit der Vorgabe, dass 
die gedruckten Schulbücher erhalten bleiben.

Das erinnert mich an die TIB Hannover, die etwa 1990 den Auftrag bekam 
zu prüfen, wie weit die Digitalisierung ihrer Bestände dazu führen 
könnte, weniger Speicherbibliotheksraum zu benötigen.
?Im Prinzip war es schon damals überschlagsmäßig leicht errechenbar, 
dass digital verfügbare Bestände etwa um den Faktor hundert preiswerter 
waren als gedruckte. Trotzdem musste ich mir nach diesem TIB-Projekt 
wiederholt anhören, dass ein DFG-Projekt wissenschaftlich nachgewiesen 
hätte, dass sich die Digitalisierung nicht lohnt. Der Grund war einfach, 
da man den Kosten der Digitalisierung nur die des architektonischen 
Platzgewinns gegenübergestellt hatte, und die Digitalisierung war damals 
noch um ein Vielfaches teurer als heute.

In den USA hat man damals ähnliche Fragestellungen untersucht, mit dem 
Unterschied, dass man zu einer entgegengesetzten Erkenntnis gelangte. 
Digitale Dokumente hatten nicht nur den Vorteil, dass sie Platz in 
Speicherbibliotheken sparten, sie konnten auch ohne dass das Personal 
sie aus den Regalen holen musste, weltweit, mit annähernder 
Lichtgeschwindigkeit, verfügbar gemacht werden.? (Zwischen 
Informationsflut und Wissenswachstum S. 273 2009)
Und dann wundert man sich über den Vorsprung der USA. Es war die Zeit, 
in der die USA das Digital Library Project förderten, aus dem dann 
Google hervorging.

MfG

Walther Umstätter




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