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Re: [InetBib] Eichstaett - Diss. et al.



Lieber Herr Schaarwaechter, liebe Liste,

genau die Grenzziehung zwischen den beiden Aspekten, die Sie benennen,
ist ja immer wieder Ursache dieses (Reiz-)Themas. Was der eine noch für
entbehrbares Schriftgut hält, wertet die andere schon als
Kulturgutvernichtung.

Die Diskussion zeigt, dass es hier sehr unterschiedliche Positionen gibt, die
teilweise nicht oder nur schwer vereinbar sind. Das ist ein echtes Dilemma -
auch unabhängig vom konkreten Fall.

Auch ich finde deshalb wie Sie, dass diese Diskussion ganz wichtig ist.
Denn wir sind noch längst nicht am Ende damit.

Ich möchte nur eine kleine Erfahrung aus der Praxis berichten, die die
Schwierigkeit des Themas verdeutlichen soll:

Ein auswärtiger Benutzer rief mich irgendwann an und fragte, ob wir
Veröffentlichungen einer bestimmten Autorin im Bestand hätten. Nach
seiner Aussage handelte es sich dabei um die erste evangelische
Journalistin. Offensichtlich war diese Person im Rahmen der neueren
theologischen Frauenforschung zum Thema geworden. Mir war der Name
bis dato völlig unbekannt gewesen.

Die Katalogrecherche ergab zu meiner Verblüffung ein halbes Dutzend
Treffer. Als ich die Bücher aus dem Magazin holen ging, stellte ich fest,
dass es sich bei den Werken dieser Autorin ausschliesslich um kleine
Biographien handelte ohne wissenschaftlichen Anspruch mit einem
geringen Umfang von ca. 60 Seiten. Erscheinungszeitraum Mitte 20.
Jahrhundert. Einfachste Aufmachung.

Keine Frage, dass ich diese "unbedeutenden" Büchlein aussortiert hätte,
wenn ich sie bei der Durchsicht eines Nachlasses entdeckt hätte.

Weitere Recherchen ergaben, dass nahezu alle anderen Bibliotheken in
Deutschland es auch so gesehen (und gehandhabt) hatten. Es war wirklich
ein Glücksfall, dass einer meiner Vorgänger sich hier wohl anders
entschieden hatte oder die Büchlein irgendwie durchgerutscht sind bei einer
Sichtung.

Das Beispiel zeigt m.E., wie schwierig es ist, den wissenschaftlichen Wert
von Büchern zu ermessen. Wo beginnt die (wissenschaftsrelevante)
"bedeutende Literatur" und endet die (verzichtbare) "Gebrauchsliteratur".

Wir sollten also, wie gesagt, dran bleiben an diesem wichtigen Thema.
Denn es ist ja sehr wahrscheinlich, dass Aussonderungen uns in nächster
Zukunft eher mehr als weniger beschäftigen werden.

Bekommt eine Bibliothek ein paar wenige Bücher geschenkt, ist es natürlich
kein großes praktisches Problem, damit klar zu kommen. Sind es aber, wie
im Fall Eichstätt, 350.000(!), dann ist es - selbst für eine mittelgroße
Unibibliothek - ein Problem.

In den 70er Jahren erhielt unsere Bibliothek zum ersten Mal eine komplette
Bibliothek, die aufgelöst worden war. Es handelte sich um 35.000 Bände.
Für unsere Bibliothek bedeutete das damals eine Bestandsverdoppelung.
Es hat annähernd 30 Jahre gedauert bis wir diesen "Berg" abgearbeitet
hatten. Auch in diesem Bestand aus der zweiten Hälfte des 19. und der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren natürlich keine Inkunabeln oder
ähnliche Kostbarkeiten enthalten, bei denen die Übernahme in den eigenen
Bestand keine Frage gewesen wäre, sondern es handelte sich auch hier um
relativ junge "Gebrauchsliteratur". Es ist nicht auszuschliessen, dass
besagte Biographiechen aus diesem Bestand stammen.

Um nicht gleich wieder missverstanden zu werden, möchte ich betonen,
dass ich auf diese praktischen Fragen der Mengenbewältigung nicht
deshalb hinweise, weil ich die massenhafte Vernichtung von Buchbeständen
damit gutheißen oder gar rechtfertigen möchte. Das angeführte Beispiel
sollte deutlich gemacht haben, dass ich persönlich sehr viel zurückhaltender
geworden bin bei der Aussonderung von Büchern als in den Anfangsjahren.
Ich möchte vielmehr damit noch einmal unterstreichen, wie wichtig ich die
fachliche Diskussion um diese Dinge finde.

Nur der Vollständigkeit halber: Ein Beitrag ohne neue Erkenntnisse in
Sachen Eichstätt gegenüber den hier schon genannten Quellen hat es nun
sogar schon bis in unsere Lokalpresse (Fränkische Landeszeitung!)
geschafft. Das zeigt, welche Kreise die Angelegenheit inzwischen zieht.


Es ist ein großer Jammer, dass man in Bezug auf die Vorgänge in Eichstätt
keine Informationen von denen erhält, die es wissen müssten, weil sie
beteiligt waren an der Geschichte.

Die Recherchen von Herrn Graf haben ja gezeigt, dass es zweifelsohne
Werke gibt, die in den Antiquariatshandel gelangt sind, von denen man
sicher einhellig sagen würde, dass hier zumindest die sonstige
Verfügbarkeit hätte geprüft werden und der Verkauf dokumentiert werden
müssen.

Aber das sind ja nun gerade nicht die Werke, die im Container entsorgt
worden sind. Bislang kann ich mir immer noch kein rechtes Bild davon
machen, was genau im Container gelandet ist.

Die vereinzelten Hinweise darauf, dass der Inhalt der Container regelrecht
geheim gehalten worden sei, helfen mir auch nicht sehr weiter. Zum einen
klingt das für mich ein bisschen nach Verschwörungstheorie, zum anderen
weiß ich aus eigener Praxis, dass ich auch immer ein mulmiges Gefühl
dabei habe, wenn ich Bücher in die grüne Tonne werfen muss. Ich bin mir
dabei immer der Tatsache bewusst, dass wirklich jede Form von
Büchervernichtung, und sei sie noch so unvermeidlich und gerechtfertigt,
unangenehme Reaktionen hervorrufen könnte. Man rührt schnell an
Tiefenschichten.

Am 19 Feb 2007 um 18:06 hat Michael Schaarwaechter geschrieben:


Hallo,

mal langsam. Die aktuelle Diskussion ist interessant und notwendig.
Aber
die harten Worte sind nicht angebracht - zumal nach meinem
Verstaendnis
ueber verschiedene Dinge gesprochen wird:

1. Das Aussondern von nicht (mehr) notwendigen Stuecken (keine
Einzelstuecke, keine wertvollen Dinge), um in z.B. einer
wissenschaftlichen Bibliothek Platz fuer aktuelle Werke zu
schaffen

2. Das Wegwerfen von antiquarischen Werken, die aufgrund ihres
Alters
oder ihrer Seltenheit aufbewahrt werden sollten oder Werke in
einer
Bibliothek mit besonderem Auftrag und/oder Bestand darstellen.

Insofern haben beide Postitionen ihren Wahrheitsgehalt und es gibt
in
meinen Augen keinen Grund, interne Reibungshitze zu erzeugen ;-)

Mit freundlichen Gruessen,
Michael Schaarwaechter

--
   Michael Schaarwaechter
   http://www.schaarwaechter.de
   http://www.inetbib.de
   http://www.ub.uni-dortmund.de




Mit freundlichen Gruessen
Armin Stephan
(Leiter des Verbandes kirchlich-wissenschaftlicher Bibliotheken)
Augustana-Hochschule / Bibliothek
D-91564 Neuendettelsau




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