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[InetBib] Wissenschaftliche Verlage und Open access
- Date: Thu, 9 Mar 2006 09:36:52 +0100 (CET)
- From: Eric Steinhauer <eric.steinhauer@xxxxxxxxx>
- Subject: [InetBib] Wissenschaftliche Verlage und Open access
Liebe Liste,
die Diskussion um die geplanten Änderungen im Urheberrecht und die Ansicht der
Verlage hierzu stellt sich wesentlich differenzierter dar, als die Lobby-Arbeit
des Börsenvereins es vermuten läßt.
Tatsächlich lassen kleinere und innovative Verlage im Wissenschaftsbereich die
parallele Publikation ihrer Bücher im Internet zu, weil sie dies zum einen als
gute Werbemaßnahme verstehen und zum anderen die Buchproduktion weitgehend vom
Autor finanziert ist.
Die Kostenmodelle sind hierbei sehr attraktiv: Als Autor etwa zahle ich rund
350 ? für die Lieferbarkeit im Buchhandel und 10 bis 15 Belegexemplare für
mich. Das war's. Der Buchpreis liegt bei unter 20 ?. Das war's ebenfalls.
Parallel dazu kann der Autor sein Werk im Rahmen Digitaler Bibliotheken
nachhaltig und gut erschlossen der gesamten wissenschaftlichen Community zur
Rezeption zur Verfügung stellen. In punkto Erreichbarkeit der Publikation ist
das unschlagbar.
Die Sache freilich hat zwei Haken. Und an diesen Haken hängen (noch) die
wissenschaftlichen Großverlage. Es gibt die renommierten Reihen bzw.
Zeitschriften mit Gatekeeper-Funktion. Wer in der Wissenschaft etwas werden
will, muß da publizieren. Veröffentlichungen außerhalb der renommierten bzw.
bekannten Reihen und Zeitschriften können wirkungslos verpuffen. Das kann sich
kein Nachwuchswissenschaftler leisten. Der zweite Haken liegt in der
Verstreutheit der digitalen Publikationen. Solange es keine weitgehend
vollständigen Fachportale gibt, kommt die Abgabe einer Arbeit in eine Digitale
Bibliothek dem Versenken im Tiefmagazin gleich. Der Mainstream der Forscher,
der nur über allenfalls durchschnittliche Recherchekompetenzen verfügt
(überdurchschnittlich ist da schon die Kenntnis des KVK) wird die Arbeiten
nicht finden.
Die beiden Haken lassen sich auf einen Begriff bringen: Sichtbarkeit.
Die renommierten Verlage gewährleisten also Sichtbarkeit. Die schlichte
Erreichbarkeit ist im digitalen Kontext und bei print-on-demand-Dienstleistern
schon heute wesentlich billiger zu haben. Wer bezahlt aber die Sichtbarkeit?
Angemessen wäre es, wenn dies der Autor tut, denn er strebt ja für sich ein
gewisses Renommee an.
Aber gibt sich einer moderner Autor mit bloßem Renomme zufrieden? Ich denke
nein. Hier beginnn die Verlage nervös zu werden. Wissenschaftler arbeiten heute
weitgehend am Bildschirm und haben direkten Zugang zum Internet. Sie schätzen
es, wenn sie relevante Literatur direkt online einsehen und verarbeiten können.
Es ist ihnen auch sehr angenehm, auf der eigenen Hompage nicht nur eine Liste
mit Veröffentlichungen zu präsentieren, sondern zugleich die Volltexte ihrer
Publikationen. Sofern diese zunächst gedruckt erschienen sind, besteht der
Wunsch nach einer bibliographisch entsprechenden online-Präsentation, die eine
Konsultation des gedruckten Werkes weitegend überflüssig macht. Das wäre auch
im ihrem digitalen Arbeitskontext eine Rezeptionserschwerung à la "ich muß
heute Abend noch in die Bibliothek und diesen Aufsatz nachprüfen". Das ist also
die Erwartungshaltung vor allem der jüngeren Wissenschaftler. Und denen gehört
bekanntlich die Zukunft.
Wenn nun die renommierten Verlage hier den Wissenschaftlern einen Eintritt in
die für sie so wesentliche digitale Welt verwehren, wird das auf mittlere Sicht
nicht funktionieren. Denn sobald ein Wissenschaftler hinreichend beruflich
gefestigt ist, wird er sich von den Fesseln dieser Verlage zu befreien suchen,
wenn er auf einfache Art und Weise Alternativen nutzen kann. Hier ist eine
professionelle Publikationsinfrastruktur in den Hochschulen mit paralleler
Print-Möglichkeit der Weg der Wahl und etliche Einrichtungen beschreiten ihn
zur Zeit. Nebenbei gesagt wird diese Entwicklung für die renommierten Verlage
in mittlerer Sicht wesentlich gravierender werden als alle Urheberkörbe, über
die zur Zeit geredet wird. Denn diese Körbe, sollten sie restriktiv ausfallen,
sind ziemlich irrelavant für neue Inhalte, die in open access-freundlichen
Strukturen erscheinen werden. Und gerade die Wissenschaften, mit denen sich das
meiste Geld verdienen läßt, interessieren sich besonders für neue Inhalte ...
Gleichwohl werden die renommierten Verlage gegenwärtig immer noch von den
Nachwuchswissenschaftlern bevorzugt werden, solange sie die Sichtbarkeit von
Publikationen besser gewährleisten als andere Anbieter. Aber diese
Wissenschaftler werden die Verlage, sofern sie bei ihrer restriktiven Haltung
in Sachen open access bleiben, mit sehr gemischten Gefühlen nutzen.
Hier sei ein religionssoziologischer Vergleich gestattet: Diese Verlage
gleichen Großkirchen, deren Initiationsritualen und Lebenswendefeiern sich die
Menschen immer noch gerne unterziehen, die aber im normalen Alltag für die
meisten Menschen vollkommen unbedeutend sind. Hier ist ein schleichender
Errosionseffekt am Werk, der am Ende zu einem schnellen und dramatischen
Einbruch der lange Zeit unversehrten Fassade führt.
Heißt das nun, daß kommerzielle Wissenschaftsverlage funktionslos werden? Nein,
überhaupt nicht. Natürlich haben sie ihren Wert und bieten sinnvolle
Dienstleistungen an. Allerdings werden sie sehr genau definieren müssen, was
diese Dienstleistungen sind. Hier werden sie angesichts des digitalen
Arbeitsumfeldes ihrer Autoren und Leser in einem Punkt umdenken müssen. Verlage
sind in Zukunft keine Content-Agenturen mehr, die den Zugang zu Inhalten. die
sie nicht erzeugt haben, nach ihren Bedingungen gestalten können. Verlage sind
Druck- und Publikationsdienstleister, die als Leistungen ein schön gedrucktes
Buch, ein professionelles Layout oder eine bessere Sichtbarkeit von Inhalten
anbieten werden. Den Aufpreis hierfür werden Autor und Leser tragen, sofern das
Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt. Hier können die Verlage ihren kommerziellen
Erfolg generieren. Sie werden sich aber von Content-Agenture hin zu
Druckdienstleistern wandeln müssen. Angemerkt sei, daß sie damit zu ihren
Ursprüngen zurückkehren, denn der Buchdruck war zu Beginn eine
Distributionstechnik allegmein bekannter und damit im heutigen Sprachgebrauch
(gemein)freier Texte.
Inhalte zu ermäßigten Tarifen oder gar frei anzubieten, ist übrigens nichts
Neues und schadet Verlagen auch nicht. Der Wert eines gedruckten Buches besteht
aufgrund seiner Usability unabhängig vom Inhalt. Die Einführung von
Taschenbüchern hat schön gebundene Bücher auch nicht überflüssig gemacht und
eine gediegene Klassikerausgabe kann sich neben einem Reclamband, der exakt den
gleichen content liefert, gleichwohl behaupten. Es ist Sache der Verlage, ihre
Dienstleistungen auf intelligente Verpackung von Inhalten umzustellen, wenn sie
im digitalen Zeitalter überleben wollen. Man muß kein Prophet sein, nur einen
engen Kontakt zu jungen Wissenschaftlern pflegen, um zu behaupten, daß sich in
einer Generation die renommierten Wissenschaftsverlage zu kompetenten
Druckdienstleistern gewandelt haben werden, oder sie werden nicht mehr
existieren.
Diese Entwicklung wird nicht für alle Verlage gleich verlaufen. Es gibt
Bereiche, etwa die Belletristik, in denen es überhaupt kein Bedürfnis nach open
access gibt. Das hier skizzierte Szenario wird aber die wissenschaftlichen
Verlage betreffen. Und hier wird es massive Gewinner geben. Daher wäre es
wünschenswert, wenn der Börsenverein eine wesentlich differenziertere
Lobby-Arbeit macht. Er wird ansonsten in dieser wichtigen Umbruchzeit des
wissenschaftlichen Publizierens zu den historischen Verlierern gehören, und der
"Korb-Streit" ein kurioser, aber lehrreicher Prüfungsstoff buch- bzw.
medienwissenschaftlicher Examina ab ca. 2025 werden. :-)
Eric Steinhauer
http://www.steinhauer-home.de
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.