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AW: "Bibliothekare zur R-Reform"
- Date: Mon, 19 Jul 2004 12:50:03 +0200
- From: "Kay Heiligenhaus" <heiligenhaus@xxxxxxxxxxxx>
- Subject: AW: "Bibliothekare zur R-Reform"
Lieber Herr Eversberg,
ich kann Ihnen nur in jeder Hinsicht zustimmen! Ich habe in den
zurückliegenden Wochen häufig mit Professor Stetter hier aus Aachen,
einem der frühen und vehementen Kritiker der RSR aus den Reihen der
Linguistik, über die bibliothekarischen Aspekte des Problems diskutiert.
Ihm waren diese Argumente zunächst völlig neu - und er hat sie in
mancherlei Hinsicht bereits in seine kürzlich an verschiedene MPs
adressierte Stellungnahme zur Reform integriert. Ich hielte es aber für
sehr wünschenswert (und fachlich notwendig), daß auch aus den Reihen des
Bibliothekswesens auf die von Ihnen genannten Aspekte eindringlich
hingewiesen wird.
Auch wenn das Thema für manchen hier keine sonderliche Rolle spielt (was
mir völlig unverständlich ist), ist das jetzt die letzte Chance, die
Dinge noch einmal zu richten. Ansonsten werden wir erst in 20 oder 30
Jahren wieder da gelandet sein, wo wir 1998 aufgehört haben: Bei einer
homogenen und hinreichend flexiblen Orthographie des Deutschen. Bis
dahin werden die Kataloge voll sein mit Müll.
Beste Grüße,
Kay Heiligenhaus
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Bernhard Eversberg [mailto:ev@xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx]
Gesendet: Mo 19.07.2004 12:12
An: Inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx
Cc:
Betreff: "Bibliothekare zur R-Reform"
Da nun die Kontroverse nochmals aufgeflammt ist und sogar hohen Zirkeln
aufgegriffen wird: wäre es nicht den Versuch wert und der Tragweite
angemessen,
auch aus dem Bibliothekswesen heraus noch eine Stellungnahme an die
Öffentlichkeit zu geben? Aufmunternde Anstöße sind mir auf direktem Wege
schon
mehrfach zugegangen, auch jetzt wieder. Juristen, Eltern, Lehrer,
Schriftsteller,
Verlage, Akademien haben solches mit Engagement getan, von uns ist
nichts
gekommen - was in dieser Liste auch schon angemerkt wurde. Gewiß, wir
haben
gegenüber Inhalt und Form unseres Sammelguts strikte Neutralität zu
wahren, damit
ist unsere bisherige Zurückhaltung zu rechtfertigen. Es gibt aber
Problempunkte,
auf die andere noch kaum hingewiesen haben, auf die wir, aus unserer
spezifischen
Kenntnis heraus und als unseren Lesern verpflichtete Einrichtungen, aber
hinweisen sollten:
-- Die scheinbare Abwertung großer Mengen von Literatur, obwohl die
Orthographie
mit ihrer inhaltlichen Qualität rein gar nichts zu tun hat (denn
wieviele Texte
werden schon neu gedruckt und wieviele davon können wir neu kaufen?),
was bis zur
Aussonderung und Makulierung in öffentlichen Bibliotheken führen kann.
-- Die Tatsache, dass Lesen und Lernen und damit geistiges Arbeiten
erschwert
statt erleichtert werden, wenn die Leser auf Dauer mit einem
Durcheinander
konfrontiert sind. Einen klaren Schnitt gibt es nicht, weil viele
Verlage und
Autoren sich verweigern. Ein langsames "Auswachsen" der Probleme wird es
deshalb
auch nicht geben - zur Anwendung verpflichtet sind ja lt. BVerfG nur die
Schulen.
-- und natürlich die Verschärfung der Probleme des Suchens in Katalogen,
Datenbanken und Textbeständen. Eine vollständige technische Lösung ist
nicht
möglich, und die Schwierigkeiten werden sich nicht mit der Zeit von
selbst
erledigen. Das ist hinreichend belegt, in den Reformdiskussionen aber
kaum jemals
auch nur angemerkt worden.
Aber was tun? Z.B. einen kompakten Text aus solchen Punkten formulieren,
den dann
eine repräsentative Anzahl aus unseren Reihen an die MP-Konferenz und an
die
überregionalen Zeitungen senden könnte.
Es folgt gleich ein erster Entwurf, bei dem Kollegin Borghild Niemann
(Berlin)
maßgeblich mitgewirkt hat. Dieser kurze Text, und nur dieser, könnte an
die
Mitglieder der MP-Konferenz und an die überregionale Presse geleitet
werden, falls
sich genügend viele damit einverstanden erklären. Ich bitte zunächst um
Vorschläge
zur Verbesserung des Textes. Die verbesserte Fassung soll dann nochmals
gesendet
werden mit der Bitte um zustimmende Bekundungen, die ich dann sammle und
als Liste
weiterleite.
MfG B.Eversberg
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Entwurf:
Bibliothekare zur Rechtschreibreform
An die Konferenz der
Ministerpräsidenten der Bundesländer
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin Simonis,
Sehr geehrte Herren Ministerpräsidenten,
Rechtschreibung soll dem Leser dienen! Als Bibliothekare sehen wir mit
großer Sorge den Verlust einer einheitlichen Orthographie durch die
Rechtschreibreform. Die seit Jahren andauernde Reform der Reform und
eine
zunehmende Gleichgültigkeit erzeugen zudem viele weitere
Schreibvarianten, die
niemand mehr überblicken kann.
Nicht nur das Lesen und Lernen, sondern auch die
Suchmöglichkeiten in Katalogen, Datenbanken und Textsystemen werden
durch die
uneinheitliche Schreibung erschwert: "Brennessel" findet man nicht, wenn
man
"Brennnessel" eingibt und umgekehrt. Die neuen Getrenntschreibungen sind
besonders
tückisch: z.B. waren immer "nichtlinear" oder "alleinerziehend"
prägnante
Suchwörter, doch diese Wörter gibt es nun gar nicht mehr. Man muß also
mehr
wissen als vorher statt weniger, und ältere und neuere Texte kann man
nicht mit
einem Zugriff finden.
Sorgen macht uns auch das Aussondern von Büchern - besonders in Kinder-
und
Jugendbüchereien - allein wegen ihrer "veralteten" Schreibung!
Als bester Weg der Schadensbegrenzung erscheint uns die Rückkehr zur
bewährten
Rechtschreibung, mit einer zehnjährigen Übergangsfrist, in der
reformierte
Schreibungen Schülern nicht als Fehler angerechnet werden.
Unterschriftenliste
Name, Bibliothek
..........
.......... usw.
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ANHANG zu dieser Mail
Einige populäre Meinungen und nicht so populäre Fragen zur R-Reform.
Nur als Ergänzung, NICHT gedacht als Anhang zu dem vorgeschlagenen
Schreiben, denn
das muß so kurz sein wir nur möglich. Zusammengestellt nach Lektüre
vieler
einschlägiger Publikationen.
"Man muß doch endlich zu einer Versachlichung kommen!"
Genau das wurde immer wieder den Reformern abverlangt und nicht
eingelöst. Die
Kritiker legten Fakten vor, die Kommission nahm sie nicht zur Kenntnis
oder nahm
dazu nicht Stellung, ging auf Fragen nicht ein oder behauptete ohne
Beweise das
Gegenteil. Wo war da Sachlichkeit?
"Aber wir haben viel wichtigere Probleme!"
Sicher, also warum dann nicht eines aus der Welt schaffen, das gar nicht
hätte
sein müssen, und einen Schaden begrenzen, der absehbar immer weiter
wachsen wird?
"Das ist jetzt nicht mehr möglich!" ist ein Killerargument, es stimmt
nicht. (S.
den Beitrag von H.H. Munske am 17.7. im Feulleton der FAZ.)
"Dass oder daß - wen schert's?"
Das ist ein sachfremdes Augen-zu-und-durch-Argument, das sich nicht auf
das
Grundproblem einlassen will: die Reform ist miserabel gemacht und in
unakzeptabler Weise durchgepaukt, deshalb haben wir die geringe
Akzeptanz und in
der Folge die galoppierende Gleichgültigkeit. Dies haben auch die
Reformer
natürlich nicht gewollt, warum schweigen sie dazu?
"Das Problem der Suche läßt sich doch technisch lösen, Google hat ja
auch schon
eine Rechtschreibkontrolle!" Google hat keine Rechtschreibkontrolle,
sondern etwas
ganz anderes: Geprüft wird, ob das gesuchte Wort selten oder gar nicht
vorkommt,
dann wird eine Alternative vorgeschlagen. Tippt man "Brennnessel" ein,
wird auf
"Brennessel" hingewiesen, denn ersteres kommt sehr viel seltener vor.
Umgekehrt
wäre es wichtiger, aber da gibt's keinen Hinweis.
"Das Gute an der Reform ist aber, daß es jetzt mehr Freiheit gibt."
1. Das gehört eher zu den größten Nachteilen: man muß MEHR wissen als
vorher,
um die Freiheit zu nutzen. Das Ergebnis sind sonst ganz neue Fehler,
indem
Freiheiten herausgenommen werden, wo keine vorgesehen sind.
2. Zu den ursprünglichen Zielen der Reform gehört dies nicht, es
scheint sich
vielmehr um eine nachträglich erfundene Ausrede zu handeln, die der
Reform einen
positiven Anstrich verleihen soll - denn wer hätte was gegen Freiheit?
3. Zeitungen und andere müssen interne Festlegungen treffen, weil sie
sich kein
inkonsistentes Erscheinungsbild leisten können. Es werden also weitere
"Hausregeln" entstehen, einige gibt es ja schon. Ist das ein Vorteil?
4. Kulturgeschichtlich ist es eine Innovation! Warum hat noch
keine andere Schriftsprache solche Freiheiten? Das Englische hat sie
nicht: die
britische und die amerikanische Variante sind in sich jeweils konsistent
und
gegenseitig nicht tolerant - es sind im Grunde zwei Schriftsprachen.
"Wer soll denn noch eine neue Variante ausarbeiten, und wie lange soll
das dauern?"
Die billigste, schnellste und effektivste Lösung ist die völlige Aufgabe
der
Reform. Es brauchen dann keine neuen Wörterbücher gedruckt zu werden,
denn die
vorhandenen haben ALLE die bewährte Schreibung als gemeinsamen Nenner,
denn die
steht ja noch mit drin, sie sind also dann alle weiter benutzbar. Viele
noch nicht
veraltete Schulbücher können wieder aktiviert werden. Aber besonders der
langfristige Schaden wird auf diese Weise am besten begrenzt.
Anschließend muß
beobachtet werden, ob sich bestimmte Änderungen von selber etablieren,
diese sind
dann ggfls. zu sanktionieren, wie es früher der "Duden" gemacht hat.
"Man kann eine nochmalige Änderung den Kindern nicht zumuten!"
Zuerst fand man aber nichts dabei, der gesamten Schriftgemeinschaft an
aller
Demokratie vorbei eine Reform zu diktieren. Ist es redlich, jetzt die
Kinder als
Geiseln zu nehmen, um die Reform doch noch zu retten?
"Aber verbindlich ist die Reform doch nur für Schulen und Behörden!"
Ist es aber fair gegenüber den Schülern, ihnen eine Schreibung
beizubringen, die
im realen Leben weithin gar nicht verwendet wird? Eine
Zweiklassen-Orthographie
kann niemand wollen und sie kann nicht funktionieren. Haben die Reformer
am Anfang
nicht vorgehabt, möglichst bald eine neue Einheitlichkeit zu erreichen?
Das ist
nicht gelungen, und die geringe Akzeptanz läßt nicht auf einen späteren
Erfolg
hoffen.
Bernhard Eversberg
Universitaetsbibliothek, Postf. 3329,
D-38023 Braunschweig, Germany
Tel. +49 531 391-5026 , -5011 , FAX -5836
e-mail B.Eversberg@xxxxxxxx
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.