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Re: Wirtschaftlichkeitsuntersuchung - Umstieg auf internationale Formate und Regelwerke (MARC21, AACR2)



Sehr geehrte Frau Oehlschlaeger, liebe Kolleginnen und Kollegen,

zunaechst meinen ganz herzlichen Dank an die Arbeitsstelle fuer
Standardisierung fuer die Veroeffentlichung des Kienbaum-Gutachtens! Zur
parallelen Lektuere moechte ich allen Interessierten Prof. Naumanns Vortrag
"Oekonomische Aspekte einer Umstellung von RAK auf AACR"
<http://www.bibliothek.uni-augsburg.de/kfe/mat/RAK_AACR_Oekonomie.pdf> ans
Herz legen.

Der Kienbaum-Text erfreut das Auge durch viele bunte Bilder, ist freilich
(zumindest fuer mich) nicht in jedem Falle transparent und leicht
nachvollziehbar. Dies gilt insbesondere fuer das Rechenwerk, wo man sich
mehr Erlaeuterungen gewuenscht haette (z.B. was wird unter den jeweiligen
Kategorien genau verstanden, wie wurden die "Nutzenpunkte? berechnet etc.).
Fuer etwaige Missverstaendnisse bei den nun folgenden Hinweisen moechte ich
mich deshalb schon vorab prophylaktisch entschuldigen.

1. Die untersuchten Szenarien geben die tatsaechlich zur Debatte stehenden
Vorgehensweisen m.E. nur unvollstaendig wieder: Es fehlt zum einen die
Untersuchung einer moderaten Anpassung der deutschen an die
angloamerikanischen Standards (Stichwort: RAK-Weiterentwicklung), und zum
anderen Frau Niggemanns "dritter Weg", also die aktive Beteiligung an der
gemeinsamen Entwicklung wirklich internationaler Standards, wie sie die
Frankfurter Preconference im Sommer 2003 anstossen sollte.

2. Fuer das Umstiegsszenario nimmt Kienbaum die Uebernahme
englischsprachiger Ansetzungen an (S. 24). Das waere jedoch nicht nur in
hoechstem Maße benutzer- und mitarbeiterfeindlich, sondern widerspricht
auch den AACR, die dafuer ja eben die Landessprache vorsehen - in unserem
Falle also Deutsch. Auch sonst wird offenbar eine 1:1-Uebernahme des
Regelwerks bis hin zur Uebernahme angloamerikanischer Transliterationen
(vgl. S. 25) vorausgesetzt, was meiner Erinnerung nach selbst die
eifrigsten Umstiegsverfechter nie gefordert haben. Auch das Beispiel der
Schweiz zeigt, dass die Annahme unrealistisch ist. Man koennte argwoehnen,
dass damit die (schon an vielen Stellen widerlegte, aber dennoch weiterhin
gebetsmuehlenartig
wiederholte) These vom unkomplizierten Datentausch nach einem Umstieg
gestuetzt werden soll.
Wie valide die Kostenberechnung sein kann, wenn die Voraussetzung falsch
ist, mag jeder fuer sich entscheiden.

3. Was die Kostenseite angeht, so errechnet das Gutachten, dass der Umstieg
ueberraschend billig zu haben waere: Wirerfahren etwa, dass die
Zusatzkosten im Vergleich zu einem "normalen" Software-Wechsel nur 10-20%
betragen, und dass fuer den Regelwerkswechsel Schulungen von vier Wochen
ausreichen (bei mittelgrossen und kleineren Bibliotheken tun es auch zwei).
Ein Vierwochenkurs kostet pro Person 4.000 Euro; eine Bibliothek mit 25 zu
schulenden Personen haette also gerade mal 100.000 Euro dafuer
aufzubringen, die die Unterhaltstraeger sicher gerne zahlen werden. Der
Personalausfall (im Beispiel 500 Mann- bzw. Frau-Tage) ist, soweit ich
sehe, nicht in die Berechnung mit eingegangen, jedoch wird fuer eine
halbjaehrige Lernphase nach der Schulung mit geringeren
Katalogisierungsraten kalkuliert.

4. Viele Kosten, fuer die man detaillierte Berechnungen erwartet haette,
tauchen im Bericht nicht auf. Ein Beispiel: Da in amerikanischen
Bibliotheken die Normdaten nicht mit den Titelaufnahmen verknuepft, sondern
in sie hinein kopiert werden, muss der komplette Datenbestand regelmaessig
mit Hilfe von
Fremdfirmen aktualisiert werden, um Aenderungen bei den Normdaten
nachzuvollziehen. Ebenso unsichtbar bleiben etwaige Kosten fuer
Regelwerkslizenzen oder fuer die Fremddaten, die man - gemaess der zu
Grunde liegenden Logik - nach einem Umstieg kuenftig auch von
AACR-Anwendern wie Bolivien, Botswana und Papua-Neuguinea uebernehmen
koennte. Auch die Standardisierungsarbeit selbst wird m.E. nach einem
Umstieg nicht weniger, sondern eher mehr kosten, da es wohl kaum ohne
deutsche Gremien gehen wird (zumal eben mit deutschen Sonderregeln zu
rechnen ist) und gleichzeitig verstaerkt internationale Dienstreisen zu
finanzieren sind; auch muessten natuerlich zahllose Papiere ins Deutsche
uebersetzt werden.

5. Unerschuetterlich scheint der Glaube der Gutachter an die Segnungen der
modernen Technik zu sein: Im Umstiegsszenario sind generell zwei
Moeglichkeiten des Umgangs mit den "Altdaten" vorgesehen, die nach den
Kienbaum'schen Vorstellungen beide erfreulich kostenguenstig zu realisieren
waeren. Denn beim Modell Datenmigration handelt es sich selbstverstaendlich
um eine rein "technische Datenmigration" ohne jegliche intellektuelle
Nachbearbeitung (S. 24). Fuer die ZDB werden dafuer beispielsweise 250
gD-Tage Zusatzaufwand angesetzt, fuer eine mittlere WB 20 Tage. Beim Modell
"Einfrieren" der Datenbank ist nicht mehr als eine halbe Stelle gD
dauerhaft fuer "Pflege altes Datenbankmodell" aufzubringen; der Nachteil
des Katalogbruchs soll in diesem Fall durch einen zehnprozentigen Aufschlag
beim Aufwand fuer das Retrieval ausgeglichen werden. Ich spare mir an
dieser Stelle einen eigenen Kommentar dazu, wie realistisch solche
Szenarien sind, und verweise stattdessen auf die Bewertung durch die
ZDB-Experten:
<http://www.zdb.spk-berlin.de/downloads/pdf/ap3.pdf>, Abschnitte a) bis c).
Dieses Papier, das ja im Kontext des DFG-Projekts entstanden ist, haette
man den Kienbaum-Gutachtern ruhig zur Kenntnis bringen koennen.

6. Mein Eindruck ist, dass Kienbaum eigentlich nur die Kosten, nicht jedoch
den Nutzen wirklich quantifiziert hat, zumal die Errechnung der
"Nutzenpunkte" recht unklar bleibt. Warum wird beispielsweise nicht
prognostiziert, wieviel man mit dem Verkauf deutscher Titelaufnahmen auf
dem internationalen Markt kuenftig erwirtschaften koennte (vgl. Kriterium
"Steigerung der Attraktivitaet deutscher Daten auf dem internationalen
Markt")? Stattdessen werden zehn Nutzenkategorien (S. 43) angefuehrt, die
bei einem Brainstorming auf einem Workshop herausgekommen sind - die dabei
genannten "Kriterien" (S. 44) werden in pro und contra Umstieg eingeteilt.
Naeher hinterfragt oder geprueft hat man sie offensichtlich nicht: Hier
findet man deshalb nicht nur erneut den fragwuerdigen "ungehinderten
Datentausch" (fuer den in der Nutzengewichtung bei den WBs uebrigens die
hoechsten Werte - 20,2% bis 21,5% - angesetzt werden, waehrend etwa die
Nutzersicht nur mit 9,8% bis 11,1% zu Buche schlaegt), sondern auch die
bemerkenswerte Behauptung, die Katalogisierung sei unter AACR einfacher als
unter RAK. Dabei ist bisher m.W. selbst die Projektbearbeiterin von einem
Mehraufwand in der Katalogisierung ausgegangen, z.B. durch die (hier
natuerlich ebenfalls als Plus erwaehnten) "mehr Eintragungen" und die
konsequente Individualisierug, die die AACR verlangen. Andere Punkte wie
z.B. "Hinterfragung der Verbundstrukturen" und "Chance auf Beseitigung
jeglichen Wildwuchs (sic!)" sprechen Bereiche an, an denen man m.E. auch
unabhaengig von einem Umstieg arbeiten koennte. Problematisch scheinen mir
auch Kriterien wie "Internationalisierung der Bibliotheksstandards" und
"Mitarbeiter koennen international arbeiten", ueber deren Bedeutung im
Alltagsleben der meisten Benutzer und Bibliothekare man trefflich streiten
koennte.

7. Die gewichteten Nutzenkategorien werden sodann in Form von
Kuchendiagrammen praesentiert. Interessanterweise erbringt das
Umstiegsszenario dabei keineswegs einen ersichtlich hoeheren Nutzen als der
Ist-Zustand, wie der Vergleich des "aggregierten Gesamtergebnisses" (S. 52
bzw. 55) zeigt: Das Umstiegsszenario punktet nur im Bereich "Datentausch"
und "Wettbewerb von Software-Anbietern". Die Bereiche "Standardisierung"
und "Fremddatenverwendung" liegen nur unwesentlich hoeher als beim
Ist-Zustand. Dieser schlaegt hingegen das Umstiegs-Szenario um Laengen auf
den Gebieten "interne Prozesse" und "Datenqualitaet"; in den Bereichen
"Mitarbeitersicht" und "Nutzersicht" ist er jeweils eine volle Stufe besser
als das Umstiegsszenario. Einen Beleg fuer den angeblich hohen Nutzen des
Umstiegs bleibt das Gutachten daher (zumindest in meinen Augen) schuldig.
Dies mutet um so merkwuerdiger an, als ein solcher schon im Abschnitt
"Ausgangslage" (S. 4, Absatz 1) postuliert wird und als Grundannahme das
gesamte Opus zu durchdringen scheint.

Alles in allem stehe ich etwas ratlos vor diesem Gutachten (das laut
DFG-Antrag uebrigens ca. 96.000 Euro kosten sollte). Dass es eine sinnvolle
Grundlage fuer die anstehenden Entscheidungen bietet, scheint mir
persoenlich zweifelhaft.

Mit freundlichen Gruessen
Heidrun Wiesenmueller
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Heidrun Wiesenmueller M.A.
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