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NZZ Online: Das eingeäscherte Gedächtnis



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Diesen Artikel aus NZZ Online, der Website der Neuen Zürcher Zeitung, 
sendet Ihnen Luise von Loew <loew _at__ goethe.de>
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14. November 2003, 07:59, Neue Zürcher Zeitung


Das eingeäscherte Gedächtnis 

Kaum Hilfe für die zerstörten Bibliotheken 
im Irak 



Wer heute die Nationalbibliothek in Bagdad 
besuchen will, der begibt sich dabei in Lebensgefahr. 
Zwar scheint die Fassade, an der noch immer 
der Wappenadler Saddams prangt, teilweise 
noch intakt. Doch schon der völlig verkohlte 
Eingangsbereich des 1977 fertiggestellten 
Gebäudes, das im April dieses Jahres gleich 
zweimal durch Brandstiftung verwüstet wurde, 
belegt eine Zerstörung ungeheuren Ausmasses. 
Bei 3000 Grad war in den beiden Brandnächten 
sogar der Beton geschmolzen, dreissig Prozent 
der Bücher verbrannten zu Asche. Die traurigen 
Reste des Nationalarchivs lagern heute, wild 
durcheinander geworfen, in weissen Müllsäcken 
in einem modrigen Gebäude irgendwo in Bagdad. 
Und auch in anderen Städten wie Basra wurden 
Bibliotheken mit geradezu martialischer Wucht 
ausgelöscht. 
Bis heute, sieben Monate nach dem Ende der 
Hauptkampfhandlungen, hat sich am Elend der 
irakischen Büchereien nichts geändert. Und 
auch die Zukunft sieht finster aus. Denn 
die internationale Gemeinschaft hält sich 
mit Hilfeleistungen vornehm zurück. Ganze 
25 000 Dollar hat der niederländische Prinz-Claus-Fonds 
als erste Geste bereitgestellt. Nach langen 
Beratungen beschloss die Unesco, ein Hilfskomitee 
zur Verwaltung und Koordination der Gelder 
für den Irak einzurichten. Nur hat die Organisation 
leider praktisch keine Mittel zu vergeben. 
Unter welchen Umständen Studenten an den 
irakischen Universitäten in diesem Herbst 
sozusagen ohne Bücher, ohne Tische und ohne 
sonstiges Mobiliar studieren sollen, ist 
zurzeit völlig unklar. 
Es ist ein bis heute unerklärter Krieg, der 
gegen die Kultur und das Bildungswesen des 
Iraks geführt wurde. Erst kamen die Soldaten, 
dann die Plünderer, schliesslich die Brandstifter. 
«Niemals hätte ich eine solche Gewalt gegen 
Bücher für möglich gehalten, in keinem Land 
hat man Vergleichbares gesehen», sagt der 
oberste französische Bibliothekar und Unesco-Gesandte 
Jean- Marie Arnoult, der den Irak mehrfach 
bereist hat und als höchste Autorität gilt. 
Verrusste, geschwärzte Räume, durch die man 
knietief in weisser Asche watet - eine Erfahrung, 
die der Experte Arnoult nicht nur in der 
Zentralbibliothek von Basra machte. 

Rätsel und Gerüchte 

Im Fall der archäologischen Schätze aus dem 
Nationalmuseum hatte es eine positive Wendung 
gegeben. Erst hiess es, sie seien geplündert 
worden, dann wurden sehr viele Objekte unter 
den ausgelagerten Sammlungen wieder gefunden. 
Anders der Fall der abgebrannten Bibliotheken 
- hier ist das Ausmass der Bücherzerstörung 
völlig eindeutig. Dabei ist es keineswegs 
einfach, Bücher zu verbrennen. Sie widersetzen 
sich dem Feuer, ähnlich wie grosse Holzstücke, 
und man braucht hohe Temperaturen, um sie 
in Brand zu setzen. In Bagdad und Basra wurden 
offenbar gezielt Brandbeschleuniger eingesetzt. 
Bücher karrte man in genau ausgewählten Ecken 
des Gebäudes zusammen, sie wurden mit brennbaren 
Chemikalien übergossen und so positioniert, 
dass die Hitze auch die Regale und Metallkonstruktionen 
der Gebäude zum Einsturz brachte. Brandbeschleuniger, 
erklärt Arnoult, finde man allein bei der 
Armee - sowohl bei den irakischen als auch 
bei den amerikanischen Streitkräften. Es 
sei klar, dass militärische Techniken angewandt 
wurden - nur weiss man nicht von wem. Hartnäckig 
wird in Basra und Umgebung die Version kolportiert, 
wonach es Kuwaiter waren, die die Feuer gelegt 
haben sollen - zum Beispiel Dolmetscher, 
die in der amerikanischen Armee «eingebettet» 
waren. Beweise gibt es dafür allerdings nicht. 

Der Angriff auf die Bibliotheken gibt noch 
weitere Rätsel auf. Warum wurden die Kataloge 
so sorgfältig zerstört? Weshalb vernichtete 
man die Karteikarten, also das «Gehirn» der 
Bibliothek, so dass allein in der Nationalbibliothek 
eine Million Bände neu katalogisiert werden 
müssen? Warum wurden selbst die Rückstände 
der Bücher akribisch verbrannt? Ein gewisses 
Vergnügen an der Zerstörung müsse wohl eine 
Rolle gespielt haben, meint Jean-Marie Arnoult 
- eine scheinbar irrationale Zerstörungswut, 
die doch genau geplant und orchestriert war. 

Wenigstens eine positive Nachricht ist zu 
vermelden: Das Handschriftenkabinett, das 
bereits im Winter in ein Versteck in der 
Nähe von Bagdad ausgelagert worden war, blieb 
vollständig erhalten. Die 47 000 Manuskripte 
zählen zu den bedeutendsten der Welt, denn 
sie berichten von Mesopotamien als Wiege 
der ersten grossen Zivilisation, aus der 
sich letztlich auch unsere Kultur ableitet. 
Jetzt, so sagen die an der Rettungsaktion 
Beteiligten, müsse dafür gesorgt werden, 
dass dieser ungeheure Schatz nicht in die 
Hand von Plünderern fällt - aber auch vor 
der amerikanisch-britischen Koalition will 
man die Bestände unter Verschluss halten. 
Über das Vertrauen in die Besatzer ist damit 
alles gesagt: Schliesslich hatten amerikanische 
Soldaten untätig zugeschaut, als die religiöse 
Aukaf-Bibliothek in Bagdad mit ihren seltenen 
Kalligraphien verbrannte, obwohl sich das 
US-Hauptquartier ganz in der Nähe befand. 
Manchmal zeigen sich die alliierten Truppen 
freilich auch hilfsbereit. In Mossul zum 
Beispiel halfen sie, nach der Plünderung 
rasch Tische und Stühle für die Bibliothek 
zu beschaffen, und lieferten brandneue, in 
Plastik eingeschweisste Sitzgelegenheiten. 


Retter und Räuber 

Mit bewundernswerter Energie haben die Iraker 
Hand angelegt, um von ihrem Büchererbe zu 
retten, was zu retten ist. Aus der brennenden 
Nationalbibliothek schafften sie rund 300 000 
Bücher und lagerten sie, auf ausdrücklichen 
Wunsch des Imams, in einer benachbarten schiitischen 
Moschee, in einem vier Meter hohen, abgeschlossenen 
Raum zu endlosen Türmen gestapelt - ohne 
Ventilation, dem Schimmel und Nagetieren 
ausgeliefert. Inzwischen hat sich ein Generator 
auftreiben lassen, und die Luftzirkulation 
funktioniert einigermassen. Die Zwischenlagerung 
scheint also gelungen, anders als im Keller 
des Tourismusministeriums, wo zahlreiche 
Bestände aus der Nationalbibliothek einem 
Wasserschaden zum Opfer fielen. 
Ein Hauptproblem bleiben die organisierten 
Buchdiebstähle - manchmal kommen die Diebe 
sogar mit genauen Bestelllisten an den Tatort. 
So findet man in Ägypten, in Libanon oder 
in Syrien Bücher, die aus organisiertem Raub 
stammen - auch aus Privatbibliotheken, denn 
irakische Familien besitzen traditionell 
grosse Sammlungen von Büchern. Zwischen zehn- 
und hundertmal soll sich der Buchraub seit 
dem amerikanischen Eingreifen vervielfacht 
haben. Von ihm profitieren international 
agierende kriminelle Netze, die in der Region 
seit langem bekannt sind. 
Die Weltgemeinschaft, betont Jean-Marie Arnoult, 
habe die Pflicht zu handeln, denn durch das 
dreizehnjährige Embargo habe auch der Westen 
zur Zerstörung der Bibliotheken im Irak beigetragen: 
«Durch die mangelnde Unterstützung sind die 
irakischen Bibliotheken gleichsam zweimal 
zerstört worden.» Das Dringendste, was jetzt 
geschehen müsse, sei der Wiederaufbau der 
Universitätsbibliotheken. Ein Land wie der 
Irak könne es sich nicht leisten, noch einmal 
eine Generation zu verschwenden: «Die junge 
Generation wird einmal das Funktionieren 
einer echten Demokratie im Irak gewährleisten.» 
Wer dies nicht unterstütze, gefährde die 
vielbeschworene Zukunft der ganzen irakischen 
Gesellschaft. 
Werner Bloch 

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