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NZZ Online: Das eingeäscherte Gedächtnis
- Date: Fri, 14 Nov 2003 11:47:41 +0000
- From: loew _at__ goethe.de
- Subject: NZZ Online: Das eingeäscherte Gedächtnis
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Diesen Artikel aus NZZ Online, der Website der Neuen Zürcher Zeitung,
sendet Ihnen Luise von Loew <loew _at__ goethe.de>
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14. November 2003, 07:59, Neue Zürcher Zeitung
Das eingeäscherte Gedächtnis
Kaum Hilfe für die zerstörten Bibliotheken
im Irak
Wer heute die Nationalbibliothek in Bagdad
besuchen will, der begibt sich dabei in Lebensgefahr.
Zwar scheint die Fassade, an der noch immer
der Wappenadler Saddams prangt, teilweise
noch intakt. Doch schon der völlig verkohlte
Eingangsbereich des 1977 fertiggestellten
Gebäudes, das im April dieses Jahres gleich
zweimal durch Brandstiftung verwüstet wurde,
belegt eine Zerstörung ungeheuren Ausmasses.
Bei 3000 Grad war in den beiden Brandnächten
sogar der Beton geschmolzen, dreissig Prozent
der Bücher verbrannten zu Asche. Die traurigen
Reste des Nationalarchivs lagern heute, wild
durcheinander geworfen, in weissen Müllsäcken
in einem modrigen Gebäude irgendwo in Bagdad.
Und auch in anderen Städten wie Basra wurden
Bibliotheken mit geradezu martialischer Wucht
ausgelöscht.
Bis heute, sieben Monate nach dem Ende der
Hauptkampfhandlungen, hat sich am Elend der
irakischen Büchereien nichts geändert. Und
auch die Zukunft sieht finster aus. Denn
die internationale Gemeinschaft hält sich
mit Hilfeleistungen vornehm zurück. Ganze
25 000 Dollar hat der niederländische Prinz-Claus-Fonds
als erste Geste bereitgestellt. Nach langen
Beratungen beschloss die Unesco, ein Hilfskomitee
zur Verwaltung und Koordination der Gelder
für den Irak einzurichten. Nur hat die Organisation
leider praktisch keine Mittel zu vergeben.
Unter welchen Umständen Studenten an den
irakischen Universitäten in diesem Herbst
sozusagen ohne Bücher, ohne Tische und ohne
sonstiges Mobiliar studieren sollen, ist
zurzeit völlig unklar.
Es ist ein bis heute unerklärter Krieg, der
gegen die Kultur und das Bildungswesen des
Iraks geführt wurde. Erst kamen die Soldaten,
dann die Plünderer, schliesslich die Brandstifter.
«Niemals hätte ich eine solche Gewalt gegen
Bücher für möglich gehalten, in keinem Land
hat man Vergleichbares gesehen», sagt der
oberste französische Bibliothekar und Unesco-Gesandte
Jean- Marie Arnoult, der den Irak mehrfach
bereist hat und als höchste Autorität gilt.
Verrusste, geschwärzte Räume, durch die man
knietief in weisser Asche watet - eine Erfahrung,
die der Experte Arnoult nicht nur in der
Zentralbibliothek von Basra machte.
Rätsel und Gerüchte
Im Fall der archäologischen Schätze aus dem
Nationalmuseum hatte es eine positive Wendung
gegeben. Erst hiess es, sie seien geplündert
worden, dann wurden sehr viele Objekte unter
den ausgelagerten Sammlungen wieder gefunden.
Anders der Fall der abgebrannten Bibliotheken
- hier ist das Ausmass der Bücherzerstörung
völlig eindeutig. Dabei ist es keineswegs
einfach, Bücher zu verbrennen. Sie widersetzen
sich dem Feuer, ähnlich wie grosse Holzstücke,
und man braucht hohe Temperaturen, um sie
in Brand zu setzen. In Bagdad und Basra wurden
offenbar gezielt Brandbeschleuniger eingesetzt.
Bücher karrte man in genau ausgewählten Ecken
des Gebäudes zusammen, sie wurden mit brennbaren
Chemikalien übergossen und so positioniert,
dass die Hitze auch die Regale und Metallkonstruktionen
der Gebäude zum Einsturz brachte. Brandbeschleuniger,
erklärt Arnoult, finde man allein bei der
Armee - sowohl bei den irakischen als auch
bei den amerikanischen Streitkräften. Es
sei klar, dass militärische Techniken angewandt
wurden - nur weiss man nicht von wem. Hartnäckig
wird in Basra und Umgebung die Version kolportiert,
wonach es Kuwaiter waren, die die Feuer gelegt
haben sollen - zum Beispiel Dolmetscher,
die in der amerikanischen Armee «eingebettet»
waren. Beweise gibt es dafür allerdings nicht.
Der Angriff auf die Bibliotheken gibt noch
weitere Rätsel auf. Warum wurden die Kataloge
so sorgfältig zerstört? Weshalb vernichtete
man die Karteikarten, also das «Gehirn» der
Bibliothek, so dass allein in der Nationalbibliothek
eine Million Bände neu katalogisiert werden
müssen? Warum wurden selbst die Rückstände
der Bücher akribisch verbrannt? Ein gewisses
Vergnügen an der Zerstörung müsse wohl eine
Rolle gespielt haben, meint Jean-Marie Arnoult
- eine scheinbar irrationale Zerstörungswut,
die doch genau geplant und orchestriert war.
Wenigstens eine positive Nachricht ist zu
vermelden: Das Handschriftenkabinett, das
bereits im Winter in ein Versteck in der
Nähe von Bagdad ausgelagert worden war, blieb
vollständig erhalten. Die 47 000 Manuskripte
zählen zu den bedeutendsten der Welt, denn
sie berichten von Mesopotamien als Wiege
der ersten grossen Zivilisation, aus der
sich letztlich auch unsere Kultur ableitet.
Jetzt, so sagen die an der Rettungsaktion
Beteiligten, müsse dafür gesorgt werden,
dass dieser ungeheure Schatz nicht in die
Hand von Plünderern fällt - aber auch vor
der amerikanisch-britischen Koalition will
man die Bestände unter Verschluss halten.
Über das Vertrauen in die Besatzer ist damit
alles gesagt: Schliesslich hatten amerikanische
Soldaten untätig zugeschaut, als die religiöse
Aukaf-Bibliothek in Bagdad mit ihren seltenen
Kalligraphien verbrannte, obwohl sich das
US-Hauptquartier ganz in der Nähe befand.
Manchmal zeigen sich die alliierten Truppen
freilich auch hilfsbereit. In Mossul zum
Beispiel halfen sie, nach der Plünderung
rasch Tische und Stühle für die Bibliothek
zu beschaffen, und lieferten brandneue, in
Plastik eingeschweisste Sitzgelegenheiten.
Retter und Räuber
Mit bewundernswerter Energie haben die Iraker
Hand angelegt, um von ihrem Büchererbe zu
retten, was zu retten ist. Aus der brennenden
Nationalbibliothek schafften sie rund 300 000
Bücher und lagerten sie, auf ausdrücklichen
Wunsch des Imams, in einer benachbarten schiitischen
Moschee, in einem vier Meter hohen, abgeschlossenen
Raum zu endlosen Türmen gestapelt - ohne
Ventilation, dem Schimmel und Nagetieren
ausgeliefert. Inzwischen hat sich ein Generator
auftreiben lassen, und die Luftzirkulation
funktioniert einigermassen. Die Zwischenlagerung
scheint also gelungen, anders als im Keller
des Tourismusministeriums, wo zahlreiche
Bestände aus der Nationalbibliothek einem
Wasserschaden zum Opfer fielen.
Ein Hauptproblem bleiben die organisierten
Buchdiebstähle - manchmal kommen die Diebe
sogar mit genauen Bestelllisten an den Tatort.
So findet man in Ägypten, in Libanon oder
in Syrien Bücher, die aus organisiertem Raub
stammen - auch aus Privatbibliotheken, denn
irakische Familien besitzen traditionell
grosse Sammlungen von Büchern. Zwischen zehn-
und hundertmal soll sich der Buchraub seit
dem amerikanischen Eingreifen vervielfacht
haben. Von ihm profitieren international
agierende kriminelle Netze, die in der Region
seit langem bekannt sind.
Die Weltgemeinschaft, betont Jean-Marie Arnoult,
habe die Pflicht zu handeln, denn durch das
dreizehnjährige Embargo habe auch der Westen
zur Zerstörung der Bibliotheken im Irak beigetragen:
«Durch die mangelnde Unterstützung sind die
irakischen Bibliotheken gleichsam zweimal
zerstört worden.» Das Dringendste, was jetzt
geschehen müsse, sei der Wiederaufbau der
Universitätsbibliotheken. Ein Land wie der
Irak könne es sich nicht leisten, noch einmal
eine Generation zu verschwenden: «Die junge
Generation wird einmal das Funktionieren
einer echten Demokratie im Irak gewährleisten.»
Wer dies nicht unterstütze, gefährde die
vielbeschworene Zukunft der ganzen irakischen
Gesellschaft.
Werner Bloch
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