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- Date: Tue, 10 Aug 1999 07:56:37 +0200
- From: "H-SOZ-U-KULT (Borgmann)" <h0249kdx _at__ rz.hu-berlin.de>
- Subject: Zum Verlust der Hofbibliothek Donaueschingen
Date sent: Mon, 9 Aug 1999 17:14:08 +0200
From: Klaus Graf <graf _at__ uni-koblenz.de>
Alf Luedtke <Luedtke _at__ mpi-g.gwdg.de>
Subject: Hofbibliothek Donaueschingen
"Die Probleme der Quellenueberlieferung sind keineswegs nur
Uebungsaufgaben methodischen Charakters; sie beruehren den innersten
Lebensbereich der Vergangenheit: es geht um nichts geringeres als die
Weitergabe der Erinnerung im Ablauf der Generationen" (Marc Bloch).
Retrospektive Bewahrung von kulturellem Erbe einerseits und prospektive
Ueberlieferungsbildung fuer kuenftige Generationen andererseits ist eine
Diskursmaterie, die in gegenwaertigen Debatten nicht zuletzt unter dem
Stichwort "Erinnerungskultur" verhandelt wird. Die Arbeit an der
Ueberlieferung, die in Archiven, Bibliotheken, Museen/Gedenkstaetten und
anderen Institutionen geleistet wird, sollte mehr als bisher Thema
fachwissenschaftlicher Diskussion und kulturpolitischer Einmischung
seitens der Fachleute sein. Zeugnisse aus der Vormoderne sind dabei ein
Stiefkind der Diskussion. Es geht dabei nicht nur um ihre Erhaltung,
sondern auch um ihre Zugaenglichkeit. Was taugen beispielsweise gepflegte
Firmen- oder Adelsarchive, wenn ihre Benuetzbarkeit durch Forschung und
Oeffentlichkeit nicht sichergestellt ist?
Es ist an der Zeit, dass Historiker sich zu Wort melden, wenn es um
bedeutsame Bestaende und ihre Erhaltung geht. Das Geschaeft der
amtlichen Denkmal- und Kulturgutschuetzer vollzieht sich, was bewegliche
Kulturdenkmale wie Sammlungen angeht, weitgehend hinter dem Ruecken der
Fachoeffentlichkeit. Wer hat sich beispielsweise schon einmal das
ueberwiegend in Privatbesitz befindliche Gegenstaende betreffende
"Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes und national wertvoller
Archive", eine denkbar kuriose virtuelle Kunst- und Wunderkammer der
Bundesrepublik, durchgelesen? Wer weiss schon, dass es ausser dieser
Eintragung in den meisten Bundeslaendern auch die Moeglichkeit des
Denkmalschutzes fuer Sammlungen als Sachgesamtheiten gibt? Aber
beispielsweise in Nordrhein-Westfalen sind Archive bewusst von diesem
Schutz ausgeschlossen worden. Wenn also ein westfaelischer Junker (oder
eine Firma) beschliesst, den historischen Archivbestand zu Heizungszwecken
zu verwenden, so kann dagegen rechtlich nicht eingeschritten werden - der
Eigentuemer verkauft ihn ja nicht ins Ausland!
...
Ein besonders markanter Fall von Kulturgutverlusten ist die Aufloesung
einer grossen Adelsbibliothek, der Fuerstlich Fuerstenbergischen
Hofbibliothek Donaueschingen, die nicht nur in Fachkreisen, in
Mailinglisten (auch in H-SOZ-U-KULT) sondern auch in der Oeffentlichkeit
in den letzten Tagen mehr und mehr Aufsehen erregt hat.
Abgesehen von Publikationen in Regionalzeitungen hat die Sueddeutsche
Zeitung am 16. Juli (Artikel von Klaus Graf) das Thema aufgegriffen,
Felicitas von Lovenberg (Redaktion Kunstmarkt) brachte einen grossen
Beitrag in der FAZ vom 24. Juli, und der Freiburger Germanist,
Lassberg-Forscher und Altrektor Prof. Dr. Volker Schupp hat in der
Stuttgarter Zeitung vom 26. Juli am Beispiel der Bibliothek Joseph
Lassbergs genau erlaeutert, inwiefern es sich um die Zerschlagung eines
Kulturdenkmals handelt und wieso das vom Wissenschaftsministerium
Baden-Wuerttemberg ins Feld gefuehrte Dubletten-Argument, die
veraeusserten Druckschriften seien in anderen Bibliotheken des Landes
vorhanden, nicht stichhaltig ist:
http://www.uni-koblenz.de/~graf/schupp.htm
Im SWR2 Baden-Wuerttemberg diskutierten am 4. August der
Wissenschaftsminister von Trotha, SPD-Finanzexperte Herbert Moser
und Volker Schupp ueber "Kulturgut unter dem Hammer", wobei das Argument
des Landes, die 10 Mio. fuer den Ankauf der Druckschriften haetten nicht
eruebrigt werden koennen, von Moser bestritten wurde. Wenn genuegend Geld
aufgebracht werde, koenne man, versuchte von Trotha den Streit beizulegen,
die veraeusserten Bestaende ja von den Haendlern zurueckkaufen.
In einem Leserbrief in der FAZ vom 4. August machte Klaus Graf deutlich,
dass in der Tat noch etwas getan werden koenne: "Kommt die Forderung nach
der Bewahrung des Gesamtbestands auch zu spaet, so koennte durch
entschiedenes Handeln der fuer die Forschung eingetretene Verlust noch
abgemildert werden. Erstens: Es ist eine virtuelle Rekonstruktion der
Hofbibliothek als Gesamtheit in Form einer Datenbank ("Donaueschingen
digital") anzustreben, in der die bereits vorliegenden und die noch im
Antiquariatshandel erreichbaren Informationen zu den individuellen
Eigenheiten der ehemals Donaueschinger Buecher zusammenzutragen waeren.
Zweitens: Durch koordinierte gemeinsame finanzielle Anstrengung des
Landes-Baden-Wuerttemberg, der wissenschaftlichen Bibliotheken im
Oberrhein- und Bodenseeraum sowie weiterer oeffentlicher Institutionen
muss so viel wie moeglich des erhaltenswerten Altbestands, insbesondere
natuerlich der Lassbergschen Bibliothek, angekauft werden. Bei diesen
Ankaeufen sollte es, anders als bei den Erwerbungen anlaesslich des
beklagenswerten Inkunabelverkaufs von 1994 (FAZ vom 28. Juni 1994), der
unter anderem die erhaltenen Reste der Klosterbibliothek der Villinger
Franziskaner (90 Baende) in alle Winde zerstreute, nicht primaer um das
Fuellen von Luecken in den Landesbibliotheken gehen, sondern um die
Bewahrung der gewachsenen Buechersammlungen ("Provenienzen"), die den
besonderen Wert dieses einzigartigen Gesamtkunstwerks ausmachten."
Es ist eines jener "weiten Felder" - die nicht wenige der
FachgenossInnen, aber auch andere Interessierte deshalb lieber
sich selbst ueberlassen: Plazierung, Praesentation und Profil von
Bibliotheken, Archiven und Museen. Die Folgen sind massiv. Sie
betreffen stets und immer schon die professionelle Arbeit
historischen (Re-)Konstruierens. Aber auch fuer die Gesellschaft "at
large" sind die Wirkungen allenthalben greifbar: wenn jene Spuren und
gezielten Ueberlieferungen nicht bewahrt, gesichert und geoeffnet bzw.
zugaenglich gemacht/gehalten werden, in denen Vergangenheit angezeigt
wird oder sich anzeigt.
Die Auseinandersetzung um die Bibliothek des Reichsgerichts
(Karlsuhe *und* Leipzig - oder alles an einem Ort und dann: wo?),
die juengst eine Reihe von Leserbriefen in der FAZ angeregt hat,
verweist nur auf einen Fall unter anderen. Wobei natuerlich das
professionelle Argument zu recht gebracht wurde, dass "alte"
Buecher nicht ohne "neue" Buecher - ueber dasselbe Thema bzw.
dessen neueste Leseweisen - zu gebrauchen sind (sofern es sich
um Forschung handeltl). Und dass auch die virtuellen Bibliotheken
keneswegs davon entbinden, Buecher (Akten etc.) haptisch-
faktisch zu benutzen, im Gegenteil - aehnliches gilt ja auch in
Berlin, wo die Diskussion um Stabi 1 (Unter den Linden) und Stabi
2 (Potsdamer Platz) zum Teil mit aehnlichen Argumenten bestritten
wurde (wobei mir im Moment die Fixierung der Scheidelinie unklar
ist - aber da Berlin ja nicht zum GBV gehoert, sind die dortigen
Bestaende ja auch bestenfalls fuer Orstansaessige durchschaubar).
Der inhaltliche Zusammenhang und seine Bedeutung erschliesst
sich bei den Archiven vielleicht am raschesten, wenn man zweierlei
im Auge hat: Das Sonderarchiv mit NS-Akten, das das MfS in der
DDR angelegt hatte, aber auch entsprechenden Bestaende in der
damaligen UdSSR. Die zahllosen Unwaegbarkeiten der Benutzung
nach 1989/91 - in Moskau - haben weitreichende Folgen fuer viele
Fragen, ob es um Stalinismus und die Besatzungspolitik nach
1945, aber mehr noch um den deutschen Faschismus geht.
Aber auch im Lande selbst ist die Frage des Zugangs der MfS-
Akten zwar gesetzlich, aber nicht befriedigend geregelt. Man denke
an die Sonderstellung der Mitarbeiter der Abt. Bildung und
Forschung des "Bundesbeauftagten fuer die Unterlagen des
Staatsicherheitsdienstes der ehemaligen DDR". Dazu hat Thomas
Rietzschel - selbst Mitarbeiter des BUSt - vor drei Wochen in der
FAZ (14.7.) unter dem Titel "Verfolgung und Verfolgungswahn"
einiges dargelegt; Joachim Gauck hat am 20.7. geantwortet. Seine
Begruendung war, dass die Privilegierung bzw. besser wohl:
Einschraenkung des Zugangs auf die Mitarbeiter der Abt. deshalb
gerechtfertigt sei, weil diese eine "spezielle Loyalitaetspflicht"
haetten. Inwiefern aber verantwortungsbewusstes Forschen sich nicht
allererst im freien Arbeiten und Austausch der ForscherInnen herausbilden
kann - das waere wohl noch einmal eines archivpolitischen Streites wert !
Einen solchen gab es ja immerhin vor vielen Jahren. in der Mitte
der 1980er, als allenthalben Landes- und das Bundesarchivgesetz
beraten und sogar praktizierende HistorikerInnen mitunter
hinzugezogen wurden: tempi passati !
Schweigen im Walde gilt auch fuer die immer wieder und offenbar
weithin praktizierende vorbeugende Verweigerung der
Aktenbenutzung in Archiven auf fast allen Ebenen (m.E. bei weitem
am angemessensten und offen das Bundesarchiv!) mit dem
(sachlich haeufig einfach falschen) Argument des "Datenschutzes"
(richtiger waere, wenn ueberhaupt: Personenschutz). Dabei ist dann
u.a. im Fall der NS-Geschichte faktisch immer wieder Taeterschutz
die Folge.
Aber natuerlich gaebe es auch einiges zu den Privatarchiven zu
sagen - angefangen damit, dass es immer noch Bundeslaender bzw.
IHKs gibt, die Wirtschaftsarchive (fuer die Bestaende kleiner
Unternehmen zumal) fuer ueberfluessig und Geldverschwendung
halten, z.B. die IHK in Hannover. - Im weiteren waeren auch hier die
Zugangsbeschraenkungen ein entsetzlich "weites Feld". Ob der Versuch, mit
der "Sozialpflichtigkeit des Eigentums" weiter zu kommen, einmal lohnen
wuerde? Noch hat es offenbar niemand versucht - auch der Unterfertigte
nicht...
Kurz: zu tun ist unendlich viel. Zuerst aber ist zu informieren.
Vielleicht entwickeln sich dann ja die ausstehenden Debatten -
denn dass die "WerkstattGechichte" No. 5 vom August 1993 eine
der neuesten Publikationen zum Thema "Archiv" ist, zeigt wie
unterbelichtet gerade auch die Aufmerksamkeit der praktizierenden
HistorikerInnen ist!
Alf Luedtke, Klaus Graf
Aktuelle Informationen zum Fall Donaueschingen (und zu weiteren,
frueheren Kulturgutverlusten - Adelsbibliotheken und Schlossinventare):
http://www.uni-koblenz.de/~graf/index.html#kulturgut
Ausfuehrliche
Hintergrundinformationen zur Hofbibliothek, zur 1994 verkauften
Inkunabelsammlung, zu den kulturhistorisch wertvollen Buechern
Schweickharts von Helfenstein (16. Jh.) und zur Bibliothek Lassbergs:
http://www.uni-koblenz.de/~graf/don.htm
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