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Nachtrag zum scharfen s



Ein paar Rueckmeldungen zu dem Thema "scharfes s" sind nicht an die
Liste, sondern direkt an mich gegangen. Damit nicht alles versandet,
und weil sowieso gerade nicht so arg viel laeuft in dieser Liste,
moechte ich doch ein kurzes Resumee einiger Gedanken versuchen.

Es frohlockte vorige Woche jemand, dass nun bald das scharfe s abgeschafft
wuerde. Das stimmt jedoch nicht ganz.
Die von den Kulturministern abgesegnete letztgueltige Fassung der
Reformbeschluesse sieht vor, den Sonderbuchstaben nur da durch
"ss" zu ersetzen, wo er einem kurz ausgesprochenen Einzelvokal folgt.
(M.a.W., die schweizerische Radikalloesung ist vom Tisch.)
Wer sich damit noch nicht befasst hat - hier ein paar Beispiele:

  Die Woerter  Mass, Strasse, Gruss, gross, giessen, weiss, Strauss
  und andere mit lang gesprochenem Vokal werden weiter mit scharfem s 
  geschrieben. Andernfalls waere bei diesen Woertern die Aussprache unklar: 
  besonders fuer Auslaender, die deutsch lernen, waere es eine Verschlech-
  terung gegenueber dem bisherigen Zustand. 
  Es wird also kuenftig die "Prozesssimulation" (nicht mehr "Prozessimulation"!)
  geben, aber nicht das "Masssystem" ("Massysteme" gab's noch nie). 
  Der "Gussstahl" wird so geschrieben werden muessen, der "Stoessel" und
  die "Stossstange" aber nicht. Das Wort "Masse" etwa kann je nach Kontext
  "Menge" oder "Abmessungen" bedeuten, ohne den Unterschied der Schreibung
  haette man also zwei gleich geschriebene Woerter mit unterschiedlicher
  Aussprache und Bedeutung - das kann keiner wollen. 
  (Das Woertchen "dass" wird in Zukunft so und nicht mit scharfem s
  geschrieben, es wird aber nicht durch "das" ersetzt, da es sich um ein 
  ganz anderes, nur zufaellig gleichlautendes Wort handelt. Wem das nicht
  ganz klar ist, der moege das einer unzureichenden Grundschulbildung
  anlasten. Da wurde wohl zuviel Mengenlehre getrieben.)

Es ist wohl nicht sehr bekannt, dass die deutschen Bemuehungen um eine
Rechtschreibreform im Ausland, wenn man sie ueberhaupt wahrnimmt, mit 
gelindem Amuesement als "typisch deutsch" eingestuft werden. Weder in 
den USA noch in England, bei allen Unterschieden der Mentalitaet und 
der pragmatischen bzw. konservativen Weltsicht, haetten Vorschlaege fuer
eine Orthographiereform der englischen Sprache die geringste Aussicht
auf Erfolg. Und die englische Sprache haette eine solche Reform nun
wahrlich, ganz leidenschaftslos betrachtet, noetiger als die deutsche.
Das aber nur nebenbei.

Deutsche Bibliothekare schlucken eine ganze Menge, bevor sie protestieren.
So geschieht es in den Katalogabteilungen, dass massenhaft Doppel-s per
Hand in scharfes s geaendert wird, statt dass sich mal ein paar zu einer
Protestnote nach Frankfurt aufraffen. Da sitzen doch keine Halbgoetter! 
Aber das ist nur ein praktischer, wenngleich aergerlicher Aspekt. Es
geht eigentlich um mehr.
Die Sache hat auch einen juristischen Aspekt, das wurde schon angedeutet,
aber auch diesem will ich, als Nichtjurist, hier nicht nachgehen. (Die
Juristen unter den deutschen Bibliothekaren schlucken wohl auch einiges.)
Doch bezweifelt jemand dieses: wenn die Telekom sich im Telefonbuche
systematisch falsche Namensschreibungen leistete, waere das laengst in
Karlsruhe anhaengig. 

Natuerlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass Kataloge
und selbst die Nationalbibliographie nicht die Aufgabe haben, die
deutsche Schriftkultur hochzuhalten. Das geschehe in der Literatur -
Kataloge weisen diese nur nach und erschliessen sie, aber sie SIND selbst
keine Literatur. Fuer den schnellen und sicheren Nachweis hat zumal
das scharfe s keinerlei Funktion. Auch Umlaute nicht, selbst die Gross-
und Kleinschreibung tragen wenig dazu bei. In der Tat kam man um 1970
in Bochum durchaus zurecht, obwohl man nur Grossbuchstaben und keine
Sonderbuchstaben hatte. Viele Katalogbenutzer bemerkten das noch nicht 
einmal, wie ich selber feststellen konnte. Benutzer interessieren sich
nicht fuer Kataloge - man betrachtet sie eher als notwendiges Uebel.
Aus dieser Sicht stoert mich ein Katalog ohne scharfes s eigentlich nicht.

Ist es nicht ueberhaupt Deutschtuemelei, sich um das scharfe s zu bemuehen? 
Waere ein Wort wie "Kulturgut" hier nicht eine Nummer zu hoch?
Eines von vielen Beispielen fuer die speziell deutsche Indifferenz und
schwindendes aesthetisches Empfinden gegenueber der eigenen Sprache ist 
das offenbare Desinteresse aber allemal.
Man schaue in andere Nationalbibliographien. Weder wird man in der
franzoesischen das C mit Cedille vermissen noch in der polnischen das
L mit dem Schraegstrich. Selbstverstaendlich nicht, niemandem kaeme
dort eine solche Vereinfachung in den Sinn. Vermutlich wuerden Ministerien
oder Akademien der jeweiligen Nationalbibliothek umgehend die Hoelle heiss
machen, sollte sie derartiges wagen. Beide Sonderzeichen findet man auch 
in der DNB, nebst vielen anderen, nur eben nicht das scharfe s.
Schlucken wir's halt - wozu sollen wir Bibliothekare uns aufregen, wenn
unsere Ministerien und Akademien damit leben koennen. Es ist gewiss besser 
so als wenn von den franzoesischen und polnischen Sonderbuchstaben einer 
fehlte. Das koennte als unfreundlicher Akt gesehen werden und zu 
diplomatischen Verwicklungen fuehren, und das kann nun wirklich keiner wollen.

MfG  B.E.

P.S.  Man gewoehnt sich an allem, auch am Dativ, wie der Berliner sagt.
Zwar macht es mir nichts aus, Texte wie den obigen mit lauter aufgeloesten
Umlauten und "ss" zu schreiben, aber nur aus Resignation ueber die
inkompatiblen Mailprogramme und weil mir die Mitteilungsfunktion in diesem
Zusammenhang wichtiger ist als Schriftaesthetik. Aber ansonsten finde ich
es schauderhaft. Anders als bei der DNB gibt es fuer die Mailprogramme
leider keine Instanz mit Gesamtverantwortung. Erstens das, aber zweitens
regiert auch hier die Indifferenz.



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